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Modelle der
Zeit in symbolischen Darstellungen des Mittelalters
Veronika Pirker-Aurenhammer Wohl jeder, der
sich mit dem Thema 'Zeit' in der mittelalterlichen Kunst beschäftigt, weiss,
dass eine isolierte Betrachtung von Zeitsymbolen zwar zu kunsthistorisch
interessanten Ergebnissen führen kann, dass diese Ergebnisse aber oft relativ
mager ausfallen - mager jedenfalls gemessen an dem, was die ganze Fülle von 'Zeitzeugen'
zu diesem Thema bietet. Eine bislang noch nicht geschriebene Gesamtdarstellung
über die Zeitsymbolik hatte viele Kapitel. Es müssten alle Wege zusammengeführt
werden, die in den Geistes- und Naturwissenschaften schon beschritten worden
sind, und selbst dann hatte man noch einige neue zu gehen. Notwendig aus der
Sicht des Kunsthistorikers scheint mir etwa eine stärker differenzierende
Begriffsbildung für die unterschiedlichsten Bildsysteme, die 'Zeit' nicht bloss
Erzählzeit enthalten, sondern auch thematisieren -sei es in Form von Text,
Symbol, Figur oder Handlung. Dass im folgenden nur kleine Segmente des symbolhältigen
Potentials mittelalterlicher 'Zeit-Bilder' angeschnitten werden konnen, versteht
sich von selbst.
Kosmische Zeit
und Heilszeit
Zunächst ein Blick auf eine der zahlreichen Darstellungen zur natürlichen Zeit, die meistens relativ leicht verständlich sind: Der von den Gestirnen vorgegebene Jahreszyklus kann sich in der Figur des Annus, in den Jahreszeiten, Tierkreiszeichen, Monatsarbeiten bis hin zu Tag und Nacht präsentieren, um nur die wichtigsten der verbildlichten Zeitphasen zu nennen. Eine schwäbische Zeichnung im Sog. Jüngeren Kapiteloffiziumsbuch aus Zwiefalten (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. 2°415), entstanden um 1162, zeigt dazu noch vier aussen angegliederte Figuren der Tageszeiten (Abb. 1). Im Zentrum hockt Annus, ein bärtiger, struppiger, halbnackter Greis mit Sonne und Mond in den Händen; darunter befinden sich Tag und Nacht als Strahlenscheiben; rund um ihn die zwei Kreise der komischen und irdischen Monatszeichen (Zodiakus und Monatsarbeiten). Die grosse
Rota, die das Bild richtiggehend sprengt, scheint sich wie ein Speichenrad zu
drehen, so als wäre sie von den peripheren Windskopfchen angetrieben, die in
alle Richtungen blasen. Die Inszenierung zeugt von einer erstaunlichen
Sensibilität für das Thema, bei dem es ja um den Jahreslauf, um Zeit in
Bewegung geht. Annus bildet als der Ruhepol des Ganzen die Achse des Rades. Er
ist die einzige Figur, die keine natürliche Zeitphase reprasentiert, sondern
gleichsam als 'Kunstfigur' für den abstrakten Begriff , Jahr' steht.
Aufschlussreich ist dieser Unterschied auch in Hinblick auf die ikonographische
Herkunft der einzelnen Bildmotive. Während die zyklischen Elemente, wie
Tierkreis und Monatsarbeiten, zum klassischen Standard gehören, sind
Personifikationen des Annus erst aus dem 10. Jahrhundert bekannt. Für eine
Erfindung des Mittelalters spricht auch die Darstellung der Figur als Träger
von Sonne und Mond, die eindeutig aus der Ikonographie des Schöpfergottes
stammt, also allein schon deshalb nachantik sein muss. So verbindet sich Neues
mit Altem zu einer Ordnung, in deren Mitte ein figurierter Begriff steht.
Ob Figur oder Text, ist bei diesem Thema letztlich eine Frage der Ausdrucksmittel. Ebensogut könnte ein schema mit Zwölfer- und Vierergruppen die Zeitelemente summieren, freilich ohne nun materielle Zeit in Form von Bewegung darstellen zu können. Dass solche geometrische Diagramme einen Einfluss auf die Bildsymbolik und Formsysteme des Früh- und Hochmittelalters hatten, ist hinlänglich bekannt. Sie boten optische Orientierungshilfen für verschiedenste Themen in den enzyklopädischen Lehrbüchern eines Isidor von Sevilla, Beda Venerabilis oder Lambert von Saint-Omer. Aus dessen 'Liber floridus' sei hier nur auf eine Illustration zur Kosmosharmonie in dem Wolfenbütteler Exemplar (Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1 Gud. lat.) aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts verwiesen, die sich auch wegen der Vergleichbarkeit der oberen Figur mit dem Annus der Zwiefaltener Handschrift anbietet (Abb. 2). Sie repräsentiert
den Makrokosmos, den mundus maior, im Himmelskreis, ebenfalls eine alte,
unbekleidete Gestalt mit vier Scheiben, die hier den Tag, die Nacht, die Jahre
und die Monate bedeuten. lm unteren Erdenkreis des mundus minor steht die
knabenhafte Mikrokosmos-Figur mit den Scheiben der Vier Elemente, des Sommers
und des Winters. Beide Sphären sind sechsgeteilt und mit ihren jeweiligen
Komponenten beschriftet, die sowohl untereinander als auch mit den Begriffen des
Gegenkreises korrelieren (oben die Weltalter und Schöpfungstage, unten die
Menschenalter, Elemente und die beiden genannten Jahreszeiten). Indem sich der
Himmel in der Erde spiegelt und umgekehrt, kommt die göttliche Harmonie des
Universums zum Ausdruck. Dem Schema sind Augustinus Zitate angegliedert, die den
gedanklichen Zusammenhang mit der augustinischen Lehre vertiefen: Der
Kirchenvater hatte das Analogieprizip in seiner Genesis-Exegese umfassend
angewandt und die Weltzeit in sechs Abschnitte nach den sechs Tagen der Schöpfung
unterteilt. Diese in der Heilsgeschichte festgelegte Zeit hat ihren Anfang in
der Schöpfung und ihr Ende am Jüngsten Tag, sie ist zielgerichtet auf die
Wiederkunft des Erlösers hin.
Augustinus
markiert, vereinfacht gesagt, den Beginn einer linearen, in der göttlichen
Vorsehung begründeten Zeitauffassung, die mit der heidnisch-antiken Vorstellung
einer zyklischen Zeit, in der sich dieselbe Geschichte in regelmassigen
Kreislaufen ewig wiederholt, bricht. Es sind die Gottlosen, die gemäss den
Worten des Psalmisten "im Kreise wandeln". Hingegen liegt im wahren
Glauben die Erkenntnis von der Begrenztheit der Zeit in der erschaffenen Welt,
die sich -freilich ohne Widerspruch zu den zyklisch-kosmologischen Ablaufen der
Natur -auf ihr einmaliges Ende hinbewegt. Und: Zeit wird als 'Eigenzeit des
Menschen definiert. "In dir also, mein Geist, messe ich die Zeiten", so
Augustinus im 11. Buch der 'Confessiones'. Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft sind nichts anderes als eine Art Dreiheit in der Seele,
vergegenwärtigt durch Erinnerung (memoria), Augenschein (contuitus) und Erwartung (expectatio).
Auch van Zeit
als Ausdehnung des Geistes (distentio animae) ist die Rede. Der theologisch begründete
Wandel van einer objektiven, durch Bewegung mesbaren Zeit zu einem subjektiven
Zeitempfinden prägte die mittelalterliche Zeitvorstellung nachhaltig. Wenn nun
Zeit erstens endlich ist und zweitens ihren Sitz in der Seele hat, bedeutet dies
letztlich auch, dass sie einerseits als begrenzte Zeitspanne teilbar und
andererseits geistig interpretierbar wird. Man kann diese beiden Möglichkeiten
am Schema des 'Liber Floridus' nachvollziehen, wo die Zeitetappen der Welt und
des Menschen einen Teil des kosmischen Ordnungsgefüges bilden.
lm Gegensatz dazu handelt es sich beim Annusbild aus Zwiefalten, wie gesagt, um die Darstellung von zyklischer Zeit die in einem jahr ablauft. Gemeint ist hier allerdings primär das Kirchenjahr der Liturgie, zu dem sich im folgenden Martyrolog zu jedem Monat eine Kalenderseite mit Monatstatigkeiten und Tierkreiszeichen und (zumeist ganzseitige) Darstellungen der Christus- und Heiligenfeste finden. Das Annusbild steht im Vorspann, der sich aus verschiedenen komputistischen Texten zusammensetzt und mit weiteren kosmographischen Illustrationen versehen ist. Auf der Vorderseite desselben Blattes befindet sich jedoch eine ungewöhnlich inszenierte Genesisdarstellung (Abb. 3). Sie zeigt in
einem grossen Kreis die Erschaffung der Welt mit dem thronenden Schöpfer in der
Mitte, darüber den Kampt Michaels mit dem Drachen, den Teufelssturz und im
unteren Teil des Bildteldes den Sündenfall, die Vertreibung Adams und Evas aus
dem Paradies und die Hölle. Wieder suggeriert das Rad, aus dem die kleinen
Teufel in die Hölle stürzen, Bewegung. Es ist der Anfang der Weltzeil die nach
Augustinus eben mit Adam, dem ersten Mensch auf Erden, beginnt -ein dramatisches
Gegenbild zum ruhig geordneten Jahreskreis, der in der Schöpfung seinen
Ursprung hat.
Schon an den
bisher gezeigten Beispielen lassen sich die oben angesprochenen Möglichkeiten
ablesen, wie 'Zeit' vergegenwärtigt werden kann: im 'Liber floridus' als Text
und zahlenallegorische Figuration des sechsgeteilten Kreises, in den beiden
Zwiefaltener Zeichnungen als Symbol des Rades, als Figuren im Jahreskreis oder
aber als Handlung mit Teufelssturz und Vertreibung des ersten Menschenpaares aus
dem Paradies.
Grundsätzlich bedeuten Zeit und Kosmos endliche Grossen, hinter denen Gott als Urheber und Vollender steht. Auch dieser Gegensatz von Zeitlichkeit und Ewigkeit kann explizit thematisiert werden, auf eindrucksvolle Weise etwa in der Genesisillustration der Pommersfeldener Bibel aus dem frühen 12. Jahrhundert (Pommersfelden, Gräflich Schönborn'sche Schlossbibliothek, H ss. 333-334). Zwei Bilder stehen einander gegenüber: links die sechs erschaffenen Tage (Abb. 4), rechts in monumentaler Gestalt der Schöpfer, der sein Werk am siebenten Tag segnet (Abb. 5).
Abb 4 Abb 5 Anders als bei
den meisten Genesiszyklen ist hier der Vorgang der Schöpfung nicht narrativ -d.h.
mit dem Schöpfer bei jedem einzelnen Tagewerk -dargestellt, sondern in ein
kontrastierendes Doppelbild von Weltentstehung und zeitloser Göttlichkeit
gefasst. Gott ist der Entwerfer, der Anfang und das Ende von allem, wie der
Titulus (Omnibus esse suum dedit hic conceptio rerum) sowie das Alpha und Omega
über seinem Haupt verkünden.
Als Logos ist
ihm die Lichtscheibe mit den ersten Worten des Schöpfungsaktes (fiat lux)
beigegeben. Die monumentale, ikonenhafte und von Engeln adorierte Gestalt thront
über dem Kosmos, der räumlich und zeitlich definiert ist: einerseits durch
Himmelsbogen und Erdkreis, andererseits durch das Jahr und den Tag, die als Büsten
in Rundmedaillons personifiziert sind. Das Jahr, so heisst es in den Versen
darunter, ist nicht feststehend (non stabilis), sondern lauft in seinen Spuren,
und der Tag ist nichts anderes als die Anwesenheit der Sonne. Die Zeit ist
demnach von Natur aus kosmologisch, d.h. an die Gestirne gebunden. Sie ist
beweglich, nicht von Dauer, eben nicht ewig wie Gott, der in dieser
hierarchischen Bildordnung tatsächlich Zeit und Raum beherrscht. Selbst die
Gestalten des gegenüberliegenden Bildes wenden sich ihm adorierend zu, darunter
die beiden Figuren von Sonne und Mond, die den am vierten Tag erschaffenen Tag
und die Nacht verkörpern.
Das Thema der
Schöpfung dpielt in der Geschichte der mittelalterlichen Zeitsymbolik eine
wichtige Rolle, da hier besonders viele theologische Aussagen im Rahmen der
Bibelexegese und der bildenden Kunst getroffen wurden. Besonders interessante Lösungen
finden sich im spaten 11. und im 12. Jahrhundert, als der scholastische Diskurs
eine Hochblüte erlebte und die Zahl der Genesisillustrationen sprunghaft
anstieg. Das erhaltene Bildmaterial zeigt die ganze Bandbreite der
hochmittelalterlichen Argumentationstechnik. Mitunter spiegeln sie, wie Conrad
Rudolph jüngst ausführlich dargelegt hat, aktuelle theologische Positionen
wider. Zwei Beispiele, die wieder die Möglichkeiten von linearer und zyklischer
Zeitstruktur vor Augen führen, müssen hier genügen:
Die Genesis-Initiale der Winchester Bible (Winchester Cathedral Library), um 1180 entstanden, veranschaulicht das lineare Prinzip der Heilsgeschichte, die durch eine siebenteilige szenenfolge in den senkrecht verknüpften Medaillons des Buchstabenschatts verbildlicht ist (Abb. 6). Sie beginnt
oben mit der Erschaffung Evas, danach folgen die Arche Noah, das Opfer Abrahams,
Moses aut dem Berg Sinai, die salbung Davids, die Geburt Christi und am schluss
der Weltenrichter, der seine Wundmale und das Kreuz vorweist. Anstelle der schöpfungstage
sind also ganz in augustinischer Tradition die Etappen der Weltzeit und deren
eschatologisches Ziel dargestellt, sodass der Betrachter bereits "In
principio" die gesamte Heilsgeschichte prafiguriert erkennt.
Beim zweiten Beispiel handelt es sich urn ein Titelblatt in einem Homiliar aus Saint-Vanne in Verdun aus der ersten Half te des 12. Jahrhunderts (Verdun, Bibliotheque municipale, Ms. 1 -Abb. 7). Grundsatzlich erinnern die Radform und die Personifikationen der Vier Jahreszeiten in den Zwickeln des Bildfeldes an das Zwiefaltener Annus-Bild (Abb. 1). Anders als dort enthalt die Rota jedoch die Schöpfung, hinzu kommen noch zwei Medaillons mit dem gekrönten Tag oben und der sich verhüllenden Nacht unten sowie geflügelte Windskopfe, die von den Ecken, d.h. aus allen vier Himmelsrichtungen, einwarts blasen. Franz Ronig hat mit Recht den allegorischen Charakter der Darstellung betont und das Bild als eine "Allegorie des Kosmos von Raum und Zeit" bezeichnet; ,,(...) das Blatt ist keine Illustration zur Genesis. Dagegen sprechen die so betont angebrachten Allegorien und die Verwendung des Blattes ausserhalb der Bibel in einem Homiliar mit Heiligen-Viten. Nicht die Genesisillustration wird durch Allegorien bereichert; vielmehr ist es so, dass die Schöpfungswoche mit ihren sieben Tagen selbst zu einer Allegorie, nämlich der Zeit, gemacht wird. (...) Sinnbildlich wird (...) zum Ausdruck gebracht und für den Anblick eines Augenblicks zusammengefasst, dass der Inhalt des Kodex im Laufe eines Jahres 'abrollt' wie das Jahr des' Annus' oder hier der Woche. Diese öfter anzutreffenden Allegorien der Zeit erläutern gewissermassen bildlich die liturgische Verwendung der Handschrift: 'per circujum anni', wie es bei den Kapitularien und Evangelistaren heisst". Dieser treffenden Charakterisierung ist noch ein wichtiger Punkt hinzuzufügen, der bislang übersehen wurde. Er betrifft die Personifikationen der Tage, die Ronig neutral als Männer bezeichnet: Den sechs Gestalten in den Kreissegmenten sind die Tagewerke attributhaft beigegeben (links oben beginnend die Fackel als lichtsymbol für den ersten Tag); im Zentrum wird der siebente Tag vom ruhenden Schöpfer gesegnet. Die Figuren sind eindeutig als die sieben Planetengötter der antiken Woche identifizierbar. Gut zu erkennen ist Mars ganz oben, der eine Art Feldherrentracht trägt. Rechts folgen Merkur in fliegender Haltung und der gekronte Jupiter. Bei der Figur im Zentrum muss es sich um Saturn handeln, nach jüdisch-antiker Vorstellung der Herrscher über den Ruhetag. Die
Planetengestalten stehen nicht nur für die Wochentage, sondern sind aktiv an
der Schöpfung beteiligt. Man denkt hier unweigerlich an Platos Timaios, nach
dem Götter für den Demiurgen die Erschaffung des Menschen vollziehen. Das die
Gottergehilfen nun auf die Wochentage der christlichen Weltschöpfung übertragen
werden, ist bemerkenswert und legt ein geistiges Milieu nahe, das
neuplatonischen Ideen gegenüber aufgeschlossen gewesen sein musste. Vorläufig
offen bleiben muss die Frage, ob eine konkrete literarische Quelle die Anregung
für diesen sehr speziellen Fall einer 'Renaissance' der antiken Götter
geliefert haben könnte.
Die kleine Auswahl an zeitsymbolischen Darstellungen des Hochmittelalters soll eine exorbitante Illustration zur Civitas Dei des Augustinus abschliessen, die nochmals die Gegenposition des Kirchenvaters zur zyklischen Zeitauffassung auf eindrucksvolle Weise vermittelt. Sie befindet sich in der um 1170/80 im Skriptorium von Posa (bei Zeitz/Sachsen) entstandenen Handschrift Ms. A. 10 der landesschule in Schulpforte. Die beiden Titelbilder (Abb. 8, 9) führen die lineare, dialektische Epochenlehre von den sechs Weltaltern vor Augen, die Augustinus in den Büchern 15-18 des Gottesstaates entwickelt, geteilt in die zwei parallel geführten 'Chroniken' der Civitas Dei und der Civitas terrena. Der Gegensatz von positiv und negativ besetzter Geschichte wird in einem Doppelbild auf einmalige Weise visualisiert. Die einander gegenüberliegenden Miniaturen geben links die Civitas Dei, rechts die Civitas terrena wieder. In die oberen sechs Kompartimente des vielteiligen, architektonischen Rahmensystems der beiden Städte sind exemplarische Ereignisse bzw. Repräsentanten der jeweiligen Weltalter eingebaut. Den Beginn leitet die Scheidung der guten und bösen Engel ein, was durch den Erzengel Michael über dem Drachen links und den hochmütigen Luzifer rechts sinnfallig zum Ausdruck kommt. Auf der Seite der Gerechten sind für das erste Weltalter Adam (mit dem Drachenkampf sind es also die gleichen 'figurae' wie im vorhin besprochenen Genesisblatt aus Zwiefalten, bloss ist Adam hier bereits bei der ersten Arbeit gezeigt), das Opfer Abels, Seth und der vor Gott kniende Enoch ausgewählt ( Abb. 8a). Das zweite Weltalter zeigt den schlafenden Noah, dessen Scham von seinen beiden gesegneten Sohnen Sem und Japhet bedeckt wird, und in den Rundbogen darüber Nahor und Thore. Das dritte Weltalter beinhaltet Abrahams Opfer, den erblindeten alten (am Feuer sitzenden) Isaak und die Gesetzesübergabe an Moses. Auf die drei Patriarchen folgen im vierten Weltalter die Könige David und Salomon sowie die Tötung eines abtrünnigen Konigs (vermutlich Achabs). lm Kompartiment des fünften Weltalters sieht man den Wiederaufbau Jerusalems unter Zorobabel und die beiden Makkabäer Judas und Jonathan. Das sechste Weltalter wird durch Johannes den Taufer, Petrus, Stephanus, Martin und Agnes repräsentiert. So fügt sich ganz im Sinne des Kirchenvaters das alttestamentliche Gottesvolk wie eine genealogische Kette aneinander, deren letztes Glied in der Zeitenfolge die "Herrschatt der Heiligen" (regnum sanctorum) verkörpert. Dementsprechend nah am Text bleibt der Versuch, die Civitas terrena als chronikalische Abfolge von lasterhaften 'exempla' der Geschichte darzustellen. Auf Luziter folgt Lamechs Mord an Kain und Tubal-Kain und die Errichtung der ersten irdischen Stadt Enoch. lm zweiten Weltalter steht Nimrod, der hünenhafte "Jäger wider den Herrn" (gigans venator contra Dominum) mit seinem Bogen in der Hand neben dem Turmbau Babels, den Semiramis befiehlt; darüber die assyrischen Könige Bel und Ninus. In den nächsten drei Epochen treten weitere gottlose Herrscher, Jäger und Krieger auf. Das letzte Weltalter nehmen Herodes und Herodias (?) sowie im Bogenfeld darunter ein häretischer Kleriker und eine thronende Figur ein, mit der wohl nur der Antichrist -Fürst der feindlichen Stadt und sich den Tempel Gottes anmassender Verführer - gemeint sein kann. Da sich die Welt der Abtrünnigen und Heiden in dieselben Weltalter wie ihr heilsgeschichtliches Gegenüber gliedert, sind die jeweiligen 'figurae' fortschreitend parallel zu lesen. Ein solches Gegenlesen der Zeitzonen eroffnet dem Betrachter eben jene historischen Querbezüge und moralischen Gegensätze zwischen den beiden Staaten, die Augustinus bekanntlich in mehrfachem Sinn auslegt. Weitere Bildelemente verstärken den Kontrast: In der untersten Bildzone vertreten einerseits Paulus, ein Engel und Johannes die christliche Lehre, andererseits Apuleius, Plato, Varro, Hermes Trismegistos (?) und Vergil das antike Wissen. In symmetrischer Ordnung weisen die Apostel mit Schriftbändern gleichsam kommentierend auf den Engel in ihrer Mitte hin, der im Geist Gottes die Hl. Schrift niederschreibt. Auf der anderen Seite stehen disputierende Heiden zuseiten eines Gebäudes, in dem der nobel gekleidete Varro sein Geschichtswerk aufzeichnet (Abb. 9a). Augustinus sagt
über diesen "so bedeutend veranlagten und grundgelehrten Mann”: "Wenn
er die vermeintlich göttlichen Dinge, über die er schrieb, hatte bekämpfen
und untergraben und sie nicht mit der Religion, sondern mit dem Aberglauben hätte
in Zusammenhang bringen wollen, würde er wohl kaum mehr des Lächerlichen, Verächtlichen
und Abscheulichen über sie zusammentragen können (...) und trotzdem gibt er
der Welt Dinge bekannt, die von Weisen und Toren mit Recht als verwerflich und
mit wahrer Religion ganz unvereinbar erachtet werdén. " Darunter fallen
auch die zwanzig, von Varro auserlesenen Götter, die Augustinus als blosses
Machwerk menschlicher Verirrung darstellt. In der Miniatur wird die (Ieicht
abgewandelte) Götterriege in Medaillons auf dem Rahmengemäuer als
Demonstration des heidnischen Götzenkultes zur Schau gestellt. Dem gegenüber
repräsentiert ein ganzer Bestiarienzoo den Reichtum der Arten im Schöpfungswerk
Gottes.
Zu all dieser Fülle
an Information kommt ein wichtiges, erst auf den zweiten Blick auffallendes
Detail hinzu, das den essentiel!en Unterschied der beiden Geschichtsstränge
auch in Hinblick auf den eschatologischen Ausgang der Staaten bewusst macht. Dem
Bildfeld der Civitas Dei ist ein Kreuzmal eingeschrieben: In den Hauptachsen des
Bildes erscheinen in roten Rundmedail!ons oben das Antlitz Christi, seitlich die
beiden Hände und unten neben den Aposteln -von deren Schriftbändern umkfeist
-die Füsse des Gekreuzigten. Christus ist gleichsam aus seiner Zeit in der
Welt, d.h. aus dem sechsten Zeitalter herausgenommen, als ewiges Kreuz
inszeniert und somit in jeder Epoche des Gottesstaates präsent. Bedeutungsvoll
prangt zudem über seinem Haupt der Löwe, in dem sich der Vergleich des Löwen Juda mit Christus formlich aufdrängt. Das negative Pendant bleibt hingegen auf die lineare
Chronologie beschränkt, und statt Christus bekrönt das Götzenbild Jupiters
wie ein Idol die Mittelsäule der Miniatur.
Halten wir fest:
Das Doppelbild der Schulpforter Handschrift führt eine polarisierte Welt der
beiden Geschichtsstränge von Anfang bis Ende der Zeiten vor Augen. während die
Sünder unter dem Einfluss von Teufel und Antichrist stehen, zeigt sich auf der
Seite des in dieser Welt fremden -Gottesstaates die Gnade des Erlösers durch
das Signum Crucis, das die gesamte Weltzeit im wahrsten Sinne des Wortes
durchdringt.
Dass Christus als Mittler zwischen Gott und den Menschen steht, ewig und doch dem Gottesvolk zu allen Zeiten gegenwärtig ist, darf als theologische Kernaussage dieser einzigartigen Illustration der Civitas Dei angesehen werden. Anregungen für die komplexe Bildidee sind wohl in Kreuzesallegorien anderer Kontexte zu suchen. Inhaltlich am ehesten vergleichbar scheint mir eine Regensburger Zeichnung im 'Dialogus de laudibus sanctae crucis' in München (Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14159). Die aus stilistischen Gründen ebenfalls in die 1170er Jahre datierbare kreuzestypologische Schrift enthält unter anderem ein siegreich über dem Drachen stehendes Rankenkreuz, in dessen Schlingen Medaillons mit Patriarchen, Propheten, Martyrern und Aposteln eingefügt sind (Abb. 10). Dem Begleittext
zufolge handelt es sich um ein Sinnbild (figura) dafür, dass alle Heiligen von
Anbeginn der Welt bis zur Wiederkunft Christi im Glauben an das Kreuz lebten und
den Gekreuzigten durch die Typen (per figuras) gleichsam zum Teil (quasi ex
parte) schon sahen, was ja auch in dem bloss teilweise sichtbaren Corpus Christi
verbildlicht ist. Vereinfacht gesagt, handelt es sich in beiden Fällen um eine
Art Allerheiligenbild im Zeichen des Kreuzes, wobei in der Civitas Dei anstelle
von Büsten biblische Leitbilder zur augustinischen Epochenlehre versammelt sind.
Eben darin unterscheidet sich die
Schulpforter
Miniatur grundlegend von der üblichen Ikonographie der Civitas Dei als
eschatologische Vision der Gemeinschaft der Heiligen im himmlischen Jerusalem.
Bezeichnend ist auch, dass es keine früheren Belege für eine zweiphasige
Augustinus-Illustration gibt. Erst im Jahrhundert der grossen Typologien,
Allegoresen und der argumentativen Bilderzählung wird es möglich, Szenen,
Figuren oder auch Symbole derart zu parallelisieren.
Personifikationen
der Zeit.
Als
Zwischenbilanz des bisher Gesagten lässt sich konstatieren: Zeit ist in der
mittelalterlichen Kunst grundsätzlich kein autonomer
Darstellungsgegenstand, sondern stets eine bildimmanente Kategorie, die
in den verschiedensten Zeitelementen, Zeitaspekten oder Zeitbezügen zur
Anschauung gelangt. Kein Grundsatz freilich ohne Ausnahmen, die -wie nicht
anders zu erwarten -mit dem beharrlichen Nachleben der antiken Naturphilosophie
und Mythologie zu tun haben. Es handelt sich hier um Personifikationen von Zeit
'per se' , also nicht bloss um besagte zyklische oder lineare Zeiteinheiten, wie
Tag und Nacht oder die Schöpfungstage. Welche Ausdrucksmöglichkeiten und
Formgelegenheiten es dafür gibt, soll im folgenden anhand von sehr
unterschiedlichen Werken zumindest kurz urnrissen werden.
An der Kanzel von Sta. Maria Assunta in Torcello sind zwei byzantinische -oder zumindest stark byzantinisierende- Reliefs des 11. oder 12. jahrhunderts in Sekundärverwendung eingelassen. Sie thematisieren zwei antike Konzepte der Zeit: zum einen Kairos, den günstigen Augenblick, die schicksalstrachtige Gelegenheit, die es im richtigen Moment zu erhaschen gilt. Kairos ist als halbnackter Jüngling auf geflügelten Rädern, mit einer Waage und einem Messer in den Händen, wiedergegeben. Vor ihm steht eine knabenhafte, von einer Victoria gekrönte Figur, die ihn sprichwortlich beim Schopf packt; kontrastierend dazu folgen rechts Unentschlossenheit und Reue in Gestalt eines Alten, der sich in den Bart greift, und einer sich mit Trauergestus abwendenden Frau. Das Gegenstück stellt den auf ewig ans Rad gefesselten Ixion dar -eine selten dargestellte frevlerische Figur der griechischen Mythologie, die in unserem Kontext die dauernde, unvergängliche Zeit verkörpert. Dies zeigen auch die beiden flankierenden, klassischen Personifikationen des Tages und der Nacht an, die eine erhobene bzw. gesenkte Fackel halten. Dass das
Kairos-Relief im 19. Jahrhundert noch für eine spatantike Arbeit gehalten wurde,
kann nicht weiter verwundern. Denn keine der aus dem Hoch- und Spätmittelalter
überlieferten Zeitpersonifikationen schliesst derart nahtlos an eine -inhaltlich
langst nicht mehr aktuelle -antike Zeitmetapher an. lm konkreten Fall ist es ein
(nur schriftlich überliefertes) Kairos-Bild des Lysipp, das Pate für das
griechische Urbild steht.
Zu Sprache kommen muss auch die uns geläufigste 'Zeitfigur': Saturn (griech. Kronos) in einer seiner vielen Bedeutungen, als Chronos. Sie beruht auf der seit den Neuplatonikern allgemeingültigen Gleichsetzung seines griechischen Namens Kronos mit Chronos, der Zeit. Ab dem 14. Jahrhundert überliefern mythographische Schriften, unter anderem der 'Ovide moralisé', Illustrationen des Saturn, der seine Kinder verschlingt. Die ..gefrässige Zeit.. (tempus edax rerum) aus Ovids Meta- morphosen wird auf diesem Weg als eine greuliche Geschichte in die christlich-moralisierende Götterwelt des Spätmittelatters eingebracht. Wichtig scheint mir die (in der Forschung m. E. zu wenig betonte) Feststellung, dass der Zeitaspekt hier jedoch bloss Nebensache ist -von episodenhaften Tönen überlagert bzw. Auf Attributhaftes beschränkt: auf den Drachen, der sich in den Schwanz beisst und selbst das oft nicht tut (z. B. im Ovide moralisé in Paris, Bibl. nat. de France, rns. fr. 373: Paris, um 1400- Abb. 13). Der 'Zeitdrache', eine Abwandlung des alten Ewigkeitsymbols der Uroboros-Schlange, hat gleichfalls literarische, allerdings bereits nachantike Wurzeln und taucht erstmals in einer allgemein um 1100 datierten Zeichnung in einem Kommentar des Remigius von Auxerre zu Martianus Capelia auf (München, Bayer. Staatsbibl., Clm 14271, Abb. 14). Saturn -die
prominente Figur rechts aussen mit dem Drachen, der Sichel und dem Schleier über
dem Haupt -ist in diesem Fall eine unter vielen verballhornten Göttergestalten
und ebenfalls noch nicht als Chronos sinnhaft konnotiert. Das sollte erst dem
neuzeitlichen, greisen Sensenmann Saturn vorbehalten bleiben.
Zuletzt noch einesinguläre Zeitpersonifikation im Kontext eines neuplatonischen lehrbildes in den 'Clavis physicae' des Honorius Augustodunensis in Paris, Bibl. nat. de France, ms. lat. 6734 (Abb. 15). Programmatisch erscheint tempus hier in Gestalt eines bärtigen Mannes, der das Pendant zur (jugendlich wiedergegebenen) Figur des locus bildet. Das Paar ist Teil eines Bezugssystems, das die vierteilige Gesetzmässigkeit der Natur zum Thema hat. Zuoberst im Segmentbogen sind die ursächlichen Ideen, die primordiales causae versammelt: Güte (bonitas), Wahrheit (veritas), Wesenheit (essentia) u.s.w., ihnen folgen die effectus causarum (die Wirkungen der Ursachen), die von den drei Rundmedaillons der Zeit, des Ortes und der dazwischen liegenden ungeformten Materie (materia informis) besetzt sind. Darunter die natura creata non creans, also die erschaffene, nicht schaffende Natur. Sie gliedert sich in die vier Elemente, die denjeweiligen Abschnitten der Schoptung -in kurzelhafte, durch Arkadenbogen gegliederte Bilder gefasst -entsprechen. Zuunterst schliesslich das Ende (finis) im Göttlichen. Diese ganze
Ansammlung von 'Begriffsfiguren' ist sorgfaltig beschriftet und übersichtlich
in formale Einheiten zusammengefasst; der unbegreifliche Schöpfergott bleibt
hingegen im Sinne einer negativen Theologie unsichtbar. Nun muss man wissen,
dass der Text des Honorius, um 1125-30 verfasst, direkt auf die um 860
entstandene Schrift des Johannes Scotus Eriugena 'über die Einteilung der
Wirklichkeit' ('De divisione naturae') zurückgeht, die wiederum spätantike
neuplatonische Quellen verarbeitet. Doch erst im 12. Jahrhundert waren
offensichtlich die mentalen und künstlerischen Voraussetzungen dafür gegeben,
ein derart abstraktes Gottes- und Weltbild zur Darstellung zu bringen.
Mechanische Uhr
und mystische Zeit: die 'Horloge de Sapience"
Das wohl auch
heute noch verständlichste und zugleich späteste der Mittelalterlichen
Zeitsymbole ist die Uhr, die mechanische Uhr. Ihre Erfindung gegen Ende des 13.
Jahrhunderts bedeutete eine kulturhistorische Revolution. Gegenüber dem
bisherigen, aus den Gestirnen abgelesenen Zeitmass brachte das neue Instrument
eine objektive, gleichmässige Zeitmessung, der die Zukunft gehören sollte.
Jaques Le Goff meinte sogar, dass die Uhr in der gesellschaftlichen Krise des
14. Jahrhunderts für das frühkapitalistische Bürgertum eine
identitatsstiftende Rolle gespielt hatte. Es wäre ein regelrechter Kulturkampf
zwischen den Kaufleuten und der Kirche um das Privileg der offentlichen Uhr
entflammt, bei dem schliesslich der neue Stand mit seinen neuen, kommunalen
Glocken die Macht Ober die 'richtige Zeit' erlangt hätte. Le Goffs These ist in
ihrer Radikalität nicht mehr aufrecht zu erhalten. Fest steht jedoch, dass die
Einbürgerung der Uhr für die mittelalterliche Gesellschaft folgenreich war.
Sie bedeutete nicht nur Prestigegewinn für privilegierte Gruppen bzw. die
Kommunen und eine strengere Regelung des alltäglichen Lebens unter ökonomischen
Pramissen ('Zeit ist Geld'), sondern auch eine Veränderung des Zeitbewusstseins
und damit auch des christlichen Weltmodells.
Eine der bekanntesten Reflexionen über die Uhr soli im folgenden etwas näher betrachtet werden: die zwischen 1331 und 1334 entstandene mystische Schrift 'Horologium sapientiae' des Dominikaners Heinrich Seuse, die bald weit verbreitet war uhd 1389 ins Französische übersetzt wurde. Zu dieser Fassung enthält die reich bebilderte Brüsseler 'Horloge de Sapience' –eine Arbeit des sog. Meisters des Jean de Rolin aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (Brüssel, Bibliotheque Royale, Ms. IV 111) - eine für unseren Zusammenhang bemerkenswerte Miniatur zu Beginn des Buches (Abb. 16). Die Illustration bezieht sich auf eine Vision im Vorwort der 'Horloge': Christus, der Erloser, zeigt dem Autor des Buches eine wunderschöne Uhr, mit vorzüglichen Radern und sanfttonenden Glocken, und er tut es, um ihm die Art und den Wert dieses Buches darzulegen. Mit anderen Worten: Dem Autor werden anhand einer klingenden Räderuhr die innere Ordnung und der hohere sinn seiner Schrift eroffnet -eine bemerkenswerte Abwandlung der lateinischen Originalfassung, wo noch nicht von einer Räderuhr die Rede ist. Interessant an der Vision ist freilich auch der Umstand, dass die von Menschenhand gemachte Uhr als göttliches Lehrinstrument dient. Dieses Problem stellt sich jn der IIlustration jedoch nicht. Denn nicht der Erlöser ist zu sehen, sondern die prachtig gekleidete dame Sapience, die göttliche, ewige Weisheit -allerdjngs mit dem Kreuznimbus. Wir haben also eine allegorisierte 'Christusfigur' vor uns, gleichsam einen Christus 'in disguise' der sapientia. An dieser ungewöhnlichen Doppelgestalt wird das oszillierende schauspiel der Gottesvisionen Seuses deutlich. Das Horologium schildert Dialoge zwischen dem schüler (Seuse) und der Ewigen Weisheit, die eins mit Christus ist. In den Visionen spricht entweder er, Christus selbst, oder sie, die Weisheit, mit der die seele schliesslich vereint wird. Die gezeigte Vision steht am Anfang dieses mystischen Vorgangs. Sapientia zeigt sich besorgt um das seelenheil jener, die erst aufgerüttelt, ja geweckt werden müssen. Dieses Aufwecken wird in der Miniatur auf grossartige Weise mit der Uhrenvision verbunden, die im Vorwort unmittelbar auf die Stelle des eveiller les endormis folgt. Die szene spielt in einem Raum, der mit allen nur erdenklïthen kostbaren Instrumenten der Zeitmessung und Zeitindikation ausstaffiert ist -für Uhrenforscher übrigens ein wichtiges Bilddokument, da einige der Geräte nur hier so früh belegt sind. In dieser Wunderkammer der Technik also steht sapientia zwischen einer grossen Standuhr und einem Schlagwerk, dessen kleine Hammer auf mehrere Glöckchen schlagen und jene zarten Klange der mystischen Uhr geradezu hörbar machen, die die Vision beschreibt. Auf dem Rahmen ist eine lateinische Inschrift zu lesen, die sinngemass heisst: Gott, der vor allen Weltaltern und Zeiten war, wurde in Maria Mensch (Ante secula qui Deus et tempora homo factus est in Maria). Indem nun das Glockenspiel von der Inkarnatjon kündet, wird das heilsgeschichtliche Wunder als gegenwärtig erfahrbar. Auch Sapientja trägt etwas ewig Gültiges bei sich: das Buch der Weisheit. Es ist mehr als nur ejn Attribut. Aufgeschlagen hält sie es dem Autor Seuse entgegen, der ebenfalls sein Buch geoffnet bei sich hat. Die beiden Bücher stehen jn enger Beziehung zueinander. Das alttestamentarische Buch der Weisheit ist die geistige Quelle, aus der Seuse gleich zu Anfang seines Buches schöpft. Das Horologium beginnt mit den ersten Versen salomons: "Denkt in Frömmigkeit an den Herrn, sucht ihn mit rejnem Herzen! Denn er lasst sich finden von denen, die ihn nicht versuchen, und zeigt sich denen, die ihm nicht mjsstrauen" (Sap 1, 1 ). Auch die Offenbarungen selbst sind auf allen Ebenen von dem biblischen pratext durchdrungen. Es würde hier zu weit führen, auf alle angespjelten Aspekte der salomonischen Weisheitslehre einzugehen. Eine Stelle scheint mir aber in Hinblick auf unser Thema erwahnenswert: " Er (Gott) verlieh mir untrügliche Kenntnis der Dinge, so dass ich den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente verstehe, Anfang, Ende und Mitte der Zeiten, die Abfolge der Sonnenwenden un den Wandel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Jahre und die Stellung der Sterne, die Natur der Tiere (…). Alles Verborgene und alles Offenbare hab ich erkannt: denn es lehrte mich die Weisheit, die Meisterin aller Dinge”(Sap 7,17-21). Den göttlichen
Ordnungsprinzip, das hier angesprochen wird, hat der Autor Seuse auf
metaphorischer Ebene Rechnung getragen. Einmal ducrh den Titel
“Horologium”und zum anderem durch die Unterteilung des Buches in 24 Kapitel
nach den Stunden des Tages. Beides erklärt sich aus der Spätmittelalterlichen
Meditationspraxis und hat in Bruder Bertholds “Horologium devotionis circa
vitam Christi”eine Parallele. M it der Uhrenvision dürfte Seuse dagegen
Neuland betreten haben. Er beschreitb die Uhr jedoch weder als Räderuhr noch
als ein Lehrgerät der Weisheit. Nachdem zuerst vom Wecken der Schlafenden die
Rede ist, erscheint eine andere Uhr: reich geschmückt und mit wohklingenden
Zimbeln (Vgl. Psalm 150,5) ist sie Sinnbild für die Milde des Erlösers. Erst
in den späteren, französischen Version von 1389 wird die Uhr auf das allgegenwärtige
Werk der Weisheit bezogen – es wird dann vom Künstler der Brüsseler
“Horloge” in Form der beiden prächtigen Maschinen ins Bild gesetzt, der Räderwerk
die göttliche Ordnung der Welt, Zeit und Heilsgeschichte assoziatief ergfahrbar
machen.
Soweit die
Uhrenvision. Das zweite Thema im Vorwort, das Wecken, sprengt effektvoll den
Rahmen des Bildes. Elegant bewegt la dame Sapience ein Rad im Uhrwerk, van dem
ein Läutseil über eine Umlenkstange aus dem Bild und über den Schriftblock
hinauf zu einer grossen Glocke führt. Bevor das Seil den klöppel erreicht, is
es scheinbar durch das Pergament gezogen – eine Illusion, die den Blick auf
die Schrift lenkt. Dem Leser gilt ja der Appell. Auch er könnte zu denen gehören,
die eingeschlafen sind und durch das Läuten wieder zur Übung tigendhafter
Werke gebracht werden sollen: Die Glocke ausserhalb der Miniatur stellt somit
den direkten Kontakt zum Leser her, stimmt ihn ein auf die kommende mystische
Erbauung. Dass wir uns noch im Vorwort des Buches befinden, suggeriert ein
wieteres Detail im Bild: der Zeiger der Uhr zeigt symbolisch auf 12, er wird
erst die 24 Stunden, d.h. die 24 Kapitel des Buches durchlaufen. Und es ist die
Weisheit, die die mystische Uhr in Gang setzt und das Geschehen einläutet, als
Herrscherin über die Zeit im geistigen Sinn.
Wir können nur
staunen über die tiefsinnige gedankliche und künstlerische Bewältigung des
Themas, das Seuse mit seinem Uhrengleichnis zwar vorgegeben, aber nicht durchgeführt
hat. Das Erstaunlichste daran ist meines Erachtens die Visualisierung der
verschiedenen Zeitebenen, die dem Text samt seiner Sinnbezüge zugrunde liegen.
In der Wissenschaftlliche Diskussion zu dem Bild wurde das bislang ausser Acht
gelassen.
Grundsätzlich
geht es um die Vergegenwärtigung des ewig Göttlichen in Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft in der Erfahrung des Mystikers. Glockenspiel, Sapientia
und Uhr stehen gelichsam wie drei Zeitblöcke nebeneinander. Sapientia, die eben
durch die offene Tür eingetreten sein mag, ist die präsente Bezugsperson
sowohl für den Autor im Bild als auch für den Leser bzw. Betrachter des Bildes.
Hinter ihr das Glockenspiel, dem mit der Aufschrift über die Inkarnation
Vergangenheit anhaftet – vor ihr die Uhr, die erst in Bewegung gesetzt wird,
sich gleichsam noch in Startposition befindet. Unterhalb des Zifernblattes hängt
ein grosses Astrolab – möglicherweis zur Regulierung der Uhr, vielleicht aber
auch als Hinweis auf die kosmologische Symbolik der Uhr oder wegen seiner
prognostischen Bedeutung. Bezeichenderweise steht die Uhr hinter dem Mönch, ist
für ihn nicht (noch nicht) sichtbar, obwohl sie ihm laut Vision von der
Weisheit gezeigt werden müsste. Die zweite Abweichung vom Text betrifft das
Glockenspiel, das nun von der Uhr getrennt als eigenes Gerät abgebildet ist und
einen Sinnspruch trägt, der weder im lateinischen noch im franszösischen Text
vorkommt. Eben diese Veränderungen zeugen unmissverständlich von der Absicht,
die zeitliche Ausdehnung des mystischen geschehens zu veranschaulichen. Einprägsam
wird dem Betrachter bewusst gemacht, dass das Göttliche allgegenwärtig ist und
Zeitgrenzen aufhebt. Denn es ist eine erzählende, lebendige, im Fluss
begriffene Zeit. Sie wird in den klingenden Glocken bewusst, in der
personifizierten Weisheit, die Christus ist, und in der von ihr bewegten Uhr-
eine Zeit ohne Brüche also, eine Einheit in verschiedener Gestalt.
Es versteht sich von serbst, dass erst die Erfindung der Uhr diese wirkungsvolle Allegorie moglich machte. Der nächste Schritt folgte mit Seuses Schrift, dann die Übersetzung ins Französische 1389, wobei sich die naheliegende Frage ste!lt, ob das hier neu formulierte Sinnbild der Räderuhr nicht von aktuellen Reflexionen über die Uhr angeregt worden sein könnte. 1377 schrieb der Mathematiker und Physiker Nicolas Oresme sein 'Livre du ciel et du monde'. Er vergleicht darin die Uhr mit dem Universum. Zu den Bewegungen der Himmelskörper heisst es: "Das ist so ähnlich, wie wenn ein Mensch eine Uhr gemacht hat und in Gang setzt und es sich dann von selber bewegt". Wenig später kornmt das Bild der Temperantia auf, die eine mechanische Uhr regelt. Diese Tugend, schon im frühen Mittelalter etymologisierend mit tempus, der Zeit, in Verbindung gebracht, erhielt im 14. jahrhundert die Sanduhr und wenig später die Räderuhr als Attribut. Das vielleicht früheste Beispiel findet sich in der gegen 1400 (von der Dichterin eigenhandig ?) geschriebenen ersten Fassung der Epitre d'Othée der Christine de Pisan in Paris, Bibl. nat. de France, ms. fr. 848 (Abb. 17). Die
Ahnlichkeiten mit der Sapientia der Brüsseler 'Horloge' sind unverkennbar. Eine
Erklärung zu der Uhr ist erst in der um 1406/08 entstandenen zweiten Fassung
der Epître (Paris, Bib!. nat. de France, ms. fr. 606) überliefert,
wo Temperantia sinngemäss wie
folgt kommentiert wird: Der menschliche Körper ist wie eine Uhr, wie diese
besteht er aus mehreren Teilen und muss durch Vernunft gerege!t werden. Millard
Meiss verweist in diesem Zusammenhang auf Christines Vater Thomas de Pisan,
Astronom am Hof des französischen Konigs Karl V., von dem Anregungen für
diesen Gedanken gekommen sein könnten. Fest steht jedenfalls, dass solche
rationalistischen Denkmodelle im höfischen Gelehrtenmilieu und an der Pariser
Universität, dem damaligen Zentrum für naturwissenschaftliche und
aristotelische Studjen, entwickelt wurden. Hinlänglich bekannt ist zudem das
grosse Interesse Kar's V. an der Astrologie, von dem neben zahlreichen
Handschriften aus seinem Besitz oder der Gründung einer eigen en astrologischen
Fakultät auch die Horloge du Palais zeugt, die er 1370 als erste öffentliche
Uhr der Stadt am königlichen Louvre anbringen liess. Und im Kreis der Pariser
Schule wurde auch jenes Modell entwickelt, das Arno Borst treffend als den "mechanisjerten
Zeitbegriff der Spatscholastik" bezeichnet. Dieser enorme Fortschritt in
Wissenschaft und Technik pragt unübersehbar die Bilderfindung der Miniatur der
Brüsseler 'Horloge'. Sie demonstriert –um es nochmals auf den Punkt zu
bringen -nicht nur die Auseinandersetzung mit einem mystischen Text auf hohem
geistigem und künstlerischem Niveau, sondern auch die kulturhistorische und
weltanschauljche Aktualisierung, die im Zusammenhang mit der Erfindung der
mechanischen Uhr und mit aristotelischer Scientia steht.
Befragung der
Zukunft als Bilderspiel: das Wiener Losbuch
Abschliessend
machte ich nach den komplexen 'Zeitbildern' einer ernsthaften Theologie, die
sowohl neuplatonisches als auch spáter aristotelisches Wissen einbinden konnte,
noch ein sehr profanes, kurioses Zeugnis menschlicher Interessen ansprechen.
Wenn wir auch hier Planeten, Monatsarbeiten, Tierkreiszeichen, Heilige
Es geht um ein sog. Losbuch, ein Buch zur Schicksalsbefragung. Spätmittelalterliche Losbücher, die ihre Wurzeln in der arabischen Prognostik haben, bestehen in der Regel aus einem Fragekatalog und aus Antworten, zu denen, man über mehrere Schritte eines Losverfahrens gelangt -vergleichbar einem Rätselspiel mit Buchstaben, Zahlen, Zeichen oder sonstigen Verweismitteln. Das um 1370 entstandene Losbuch der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (Cod. Ser. n. 2652) ist nicht nur das früheste illustrierte Exemplar im deutschsprachigen Raum, das sich erhalten hat, sondern auch eines der schönsten Arbeiten dieses Genres. Wie das Losverfahren in diesem Fall funktionierte, lässt sich nicht mehr genau feststellen, da der ehemals in den Einbanddeckel eingelassene Zahnradmechanismus verloren gegangen ist. Dem Benützer hätte man aber ungefähr folgendes weismachen können: "Du drehst vorne auf dem Einband an dem Rädchen, das Du unterhalb des Mondes und zwischen den unteren der vier Sterne siehst Wenn Du das Buch aufmachst, weisen Dir das GIücksrad und die Tabelle mit den Zahlen und Buchstaben den Weg zu den Fragen, die auf der nächsten Seite stehen (Abb. 19). Wähle ein Thema aus, daneben findest Du die Namen der alten Meister, von denen einer Dir den Schicksalsspruch verkünden wird. Um dahin zu gelangen, musst Du auf einem der beiden folgenden Bildern diesen Meister wiederfinden und dann der Linie folgen, die von ihm zu einem der sieben Planeten im Himmel führt (Abb. 19). Als nachstes musst Du diesen Planeten mit den Himmelsrichtungen und Zahlen und Buchstaben verbinden und kommst dann auf ein Monat oder auf das Tierkreiszeichen dieses Monats oder auf einen Apostel. Daneben steht die Zahl der Seite, die Du aufschlagen musst. Du hast dann zwei Bilder der Monate und ihrer Zeichen (Abb. 20) oder auch zwei Apostel vor Dir. Sie stehen immer rechts neben dem Mond oder der Sonne. Unter dem richtigen Zeichen oder der richtigen Figur findest Du schliesslich den Spruch des Meisters." Es dürfte wohl klar geworden sein, welches Spiel hier ganz offensichtlich mit Bildern getrieben wurde. Sie dienen allein dem Losverfahren, obwoh! man auf den ersten Blick meinen könnte, sie hatten etwas mit Sterndeuterei zu tun. Selbst die grossen Planetenforscher der Warburg Schule, Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl sind diesem trügerischen Schein zum Opfer gefallen, als sie die Miniaturen als "influences of the planets" deuteten. Hinsichtlich der Ikonographie scheint das auch vordergründig richtig: Wir sehen auf zwei Seiten ,eine grosse Planetensphare, unterderzwölf Gelehrte der alten Welt gestikulierend sitzen (Autoritäten des Alten Testaments und der Antike, Abb.19). Aus dem Kontext
ergibt sich jedoch ein ganz anderer Sinn: Figuren und Himmelszeichen sind nur
Mittel zum Zweck, zu guten Ratschlägen oder zu Schicksalssprüchen zu gelangen,
und in diesem Sinne sind sie gewissermassen auch Wegweiser in die Zukunft.
Insofern hat das ungewöhnlich genutzte Bildprogramm auch wieder etwas mit Zeit
zu tun -mit einer Zeit aber, die den Betrachter betrifft und nicht den
dargesteilten Inhalt. Dabei bekommt man im Losbuch etwa gesagt: "Du findest
gar in kurzer Frist, das Ding das da verloren ist" , " Magst Du Dich
nicht enthalten, so nimm den Jungen und nicht den Alten", "Wir
Apostel, glaube mir, wollen GIücke geben dir" , oder aber: " Deine
Herrschaft hat ein Hase gegessen in dem Grase". Es ist eben nicht immer
Weisheit, die herauskommt, wenn man ein Rad dreht.
Erectiele disfunctie Abb1 |