|
Wilde Menschen: Wildmann und sein Kind. Holzschnitt von H. Schäuffelen, um 1520 Wilde Menschen (Wildleute) spielen in der traditionellen Symbolik und Heraldik eine bedeutende Rolle. Sie gelten als Verkörperungen der ungebändigten Natur vor der Landnahme des Kulturmenschen und sind damit vielfach mit den Riesen zu vergleichen. Auch ihnen wird häufig übermenschliche Größe zugeschrieben. Klassische Vorbilder der Wildleute sind die Satyrn, Silene und Faune der antiken Sagen, ebenso der Naturgott Pan. In der Bibel werden die Sa'irim, die »Zottigen«, als Feldteufel bezeichnet. Ähnliche menschenartig- halbtierische Gestalten treten auch in den Indianersagen sowie in der Folklore zentralasiatischer Völker auf. In der letzten Zeit wurde oft die Frage diskutiert, ob es sich um bloße Projektionen unbewußter Vorstellungsinhalte handelt (Verkörperungen des ungebändigten Trieblebens), die auf ihre Art »Sehnsucht nach freiem Ausleben der Wünsche« symbolisieren, oder ob eine Art von Urtradition mitspielt, die Erinnerungen an prähistorische Lebensweisen festhält. Überdies wurde die Hypothese geäußert, es könnte in entlegenen Gebieten noch nicht ausgestorbene Vor- und Frühmenschenformen geben, etwa Nachkommen des Homo erectus oder des Neandertalers, die Anlaß zu den immer wieder auftauchenden Gerüchten vom Yeti, Dremo, Mihgö, Almas oder Almasti (Asien) und Sasquatch und Bigfoot (Nordamerika) gegeben hätten. Auch in Zentralamerika ist ein Waldmensch bekannt, der Yum K'ax der Lacandonen-Mythologie. Gelegentlich auftauchende Fußspuren scheinen den sonst offenbar ungreifbaren Gestalten einen Anflug von Realität zu verleihen. Hypothesen von esoterischer Seite schreiben diesen Naturwesen eine Existenz zwischen okkulter Bilderwelt und »harter Realität« zu, während Religionsforscher der Ansicht sind, es handle sich um sehr lebhafte und noch nicht aus dem Menschheitsgedächtnis verschwundene Vorstellungen von naturhütenden Waldund Buschgeistern, die bei Vorhandensein geeigneter innerlicher »Auslösersituationen« Streß, Erregung, Einsamkeit in Waldgegenden usw. zu visionären oder halluzinatorischen Erlebnissen von behaarten, affenähnlichen Wildmenschen führen können. Vgl. Pferd, Bock. In der Wappenkunst wurde der »Wilde Mann« vor allem als Schildhalter dargestellt, so etwa im preußischen Gesamtwappen. Ebenso wurde er auf Münzen der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg abgebildet.- In der mittelalterlichen Novellensammlung »Gesta Romanorum« (um 1300) werden die Wildleute in ihren monströsen Gestaltungen, auch »Monstra et Portenta« genannt, symbolhaft aufgefaßt und zu Vorbildern des Menschen stilisiert, der in seiner vollkommenen Form nur zu leicht selbstgefällig wird. Die Hundskopfmenschen oder Kynokephalen etwa, die »mit Gebell reden und in Tierfelle gekleidet sind«, gelten als Symbole jener Büßer, die »mit Tierfellen bekleidet sein sollen, das heißt mit strenger Buße angetan, um anderen ein gutes Beispiel zu geben«. Negative Beispiele bilden hingegen »Leute mit Hörnern, Stumpfnasen und Bocksbeinen. Das sind die Hochmütigen, die überall die Hörner des Hochmutes zeigen, für ihr persönliches Heil eine sehr kleine Spürnase der Besonnenheit und im Rennen nach der Üppigkeit die Beine eines Bockes haben. Denn die Ziege ist sehr schnell im Laufen und geschickt im Klettern: Dies wende auf die Hoffärtigen an!« Vorbildhaft zu deuten sind hingegen im fernen Indien »Frauen mit Bärten, die bis auf die Brust reichen, deren Kopf aber völlig kahl ist. Das sind die gerechten Menschen, die die gerechte Straße der kirchlichen Lehren beobachten und sich weder durch Liebe noch durch Haß davon abbringen lassen« (vermutlich deshalb, weil sie wegen ihrer Absonderlichkeit erst gar nicht in Versuchung kommen, fleischliche Gelüste auszuleben, wie dies von der legendären heiligen Kummernus, auch Wilgefortis oder Liborada, erzählt wird). Die Doppeldeutigkeit der Wildleute im Hinblick auf ihre moralische Vorbildwirkung führte auch dazu, daß sie sich vom Prototyp der lüsternen Naturwesen Satyr, Faunus, Pan, Silenos etc. oder den Trollen der skandinavischen Sagen weit entfernten und im Gegenteil zu Symbolen unverbildeten Lebens, weitab von jener Völlerei, die Sodom verdarb, werden konnten. Ein Holzschnitt von Hans Schäuffelein (Nürnberg, Ende des 16. Jahrhunderts) wurde von Hans Sachs mit einer »Klag der Wilden-holtzleut, über die untrewe welt« betextet, worin es u. a. heißt: »Wie ungezogen ist die Jugendt, wie gar das Alter ohne Tugent, wie unverschampt ist weiblich Bild, wie ist Mannlich person so Wild«, daß im Gegensatz dazu selbst jene Wildleute sich kultiviert vorkommen, die im unzivilisierten Bereich außerhalb der Menschenwelt mit ihrer Sittenverderbnis hausen. In tiefenpsychologischer Hinsicht sind solche Wesen dem Dickicht des »Waldes« zuzuordnen, dem »ungerodeten« Teil der Persönlichkeit. E. Aeppli bemerkt dazu, daß die Traumsymbolik diesen elementaren Bereich als vorwiegend gefährlich kennzeichnet, »denn wir sollen nicht Waldmenschen sein noch wieder zu solchen werden, auch nicht zu Zwergen und Kobolden. Selbst der frömmste Klausner, verläßt er seine grüne Schlucht und arme Hütte nie und wird er nicht in seiner Einsamkeit aufgesucht, verliert sein Menschentum, wird selber Baum und altes Tier, wird zum Walde selbst, und damit Nur-Natur.« Eine entsprechende Grundbedeutung hat »Wildnis« (yeh) in der chinesischen Tradition; die Außenwelt ist das unkultivierte Gebiet, und der »wilde Mensch« (yehjen) ist der Barbar, der in den einst weitverbreiteten Wäldern lebend vorgestellt wurde. Räuber wurden als »Leute der grünen Wälder« bezeichnet. Lexikon der Symbole: Wilde Menschen, S. 1 ff.
Wildeman op eenhoorn Der
tolle Mensch. (F. Nietzsche)
- Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der
am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich
schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« - Da dort gerade viele von denen
zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter.
Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein
Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns?
Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? - so schrien
und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und
durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, »ich will es
euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!
Aber wie haben wir dies gemacht?
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns
den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzu wischen? Was taten wir, als wir diese
Erde von ihrerSonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir
uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts,
seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten?
Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere
Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr
Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch
nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch
nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist tot!
Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder
aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist
unter unsern Messern verblutet - wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem
Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele
werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns?
Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?
Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer nach
uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als
alle Geschichte bisher war!« - Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder
seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich
warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich
komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies
ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert - es ist noch nicht bis zu den
Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der
Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um
gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die
fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!« - Man erzählt noch,
daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei
und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede
gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch,
wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«
Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Drittes Buch, Die Fröhliche Wisenschaft S. 22 ff. haardplaat Flassigny
A.Durer: wapenschilden A. Durer: Hercules A. Durer: de ontvoering en de wildeman
|
|
canandanann 09-12-2004
|