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Raum I. Der Satz, die Zeit sei die vierte Dimension der Wirklichkeit (außer den drei Dimensionen des Raums), leidet an einer sprachlichen Liederlichkeit. Man hat eine Lehnübersetzung von Dimension nicht beliebt, weil sie schwierig gewesen wäre. Richtung wäre falsch, weil der Raum unendlich viele Richtungen hat und bloß drei. Ausmessungen oder Maße wäre nicht ganz richtig, weil es sich nicht um Ausmessungen usw. des Raumes handelt, sondern um Ausmessungen am Raume. Es wäre vielleicht gut, trotzdem das Wort schon ein Terminus ist, für Dimension Determinante oder Bestimmung zu sagen und dann meinen Satz so auszudrücken: Die Zeit ist die vierte Determinante der Wirklichkeit. Die alte Frage, ob Zeit und Raum selbst Wirklichkeiten seien wie in der Sprache der Poesie, oder ob sie (nach Kant) apriorische d.h. angeborene Formen der Anschauung seien, kann durch den Satz, die Zeit sei die vierte Determinante der Wirklichkeit, durchaus nicht entschieden werden; denn Zahlen und Kräfte, Menschen und Ideen können Determinanten sein. So könnten Zeit und Raum als Determinanten alles dieses sein. Auch ein strenger Beweis dafür, ob Zeit und Raum Substanzen seien oder nicht, würde nicht helfen; denn wir wissen von den Substanzen mit Sicherheit nur das eine, daß sie substantivisch, in unsern Sprachen also Substantive sind. Ich weiß nicht, ob über diese Berührung von Metaphysik und Grammatik schon gebührlich laut gelacht worden ist. Wir haben gelernt, d.h. die Sprachkritik behauptet, daß Grammatik und Logik jede Erkenntnismöglichkeit auf den Kopf gestellt haben, als sie die Dinge, die Hypothetischen, zu Hauptsachen machten, zu Hypostasen, zu Substantiven, und die einzigen psychologischen Wirklichkeiten, die Eigenschaften oder Empfindungen zu Nebensachen machten, zu Beigaben, Epitheten oder Adjektiven. Das einzige Positive in unserer Welterkenntnis ist die Eigenschaft, die Empfindung; die Grammatik aber nannte schon vor nahezu zweitausend Jahren das Substantiv ein Positivum. Dieses Aufdenkopfstellen der Gelehrtensprache wäre aber nicht der Rede wert, wenn nicht der urälteste Instinkt des gemeinen Mannes und der Gemeinsprache genau ebenso hypothetisch und doch unausweichlich die angenommenen Ursachen aller Eigenschaften zur einzigen Wirklichkeit machte, zum Ding; der naive Realismus des gemeinen Mannes, vielleicht der verstiegenste Idealismus, hält die handgreiflichen oder augensichtbaren oder ohrhörbaren Empfindungen für unwirkliche Vorstellungen, und ihre instinktiv erschlossenen gemeinsamen Ursachen hält er für palpable Wirklichkeiten. Die ganze Geschichte der Philosophie ist ein Kampf zwischen diesem Menscheninstinkt und einer unmenschlichen Erkenntnistheorie, die auf Lebensgefahr instinktlos sein möchte. Solche Gedanken leiten dazu, Raum und Zeit ein wenig besser als bisher dort unterzubringen, wo sie einmal sprachlich zu Hause sind: unter den substantivischen Begriffen. Raum und Zeit gehören nicht zu den konkreten Begriffen, den hahnebüchenen, weil Raum für sich und Zeit für sich nicht gemeinsame Ursache verschiedener Empfindungen sein kann, die dann auf ein Ding hinweisen (Raum und Zeit zusammen könnten als so eine Ursache aufgefaßt werden, deren Wirkung die Welt wäre); Raum und Zeit gehören aber gewiß auch nicht zu den Scheinbegriffen, wie z.B. Hexe, Gespenst, weil Raum und Zeit mindestens Bedingungen von Wirklichkeiten, von allen Wirklichkeiten sind; Raum und Zeit gehören aber auch nicht zu den unverschämten abstrakten Substantiven auf heit, keit, schaft usw., die ihrem Wesen nach eigentlich nachgemachte Eigenschaften sind, innere Empfindungen besten Falls, keine richtigen Empfindungen, und die darum mit erstaunlich sprachkritischer Selbsterkenntnis, weil sie keine rechten Adjektive sind, sich zu falschen Substantiven verkleidet haben. So gehören Raum und Zeit wohl sprachlich zu den Substantiven, stehen aber abseits von den Gruppen der Gemeinsprache. Niemand ist auf den Einfall gekommen, etwa die Wärme, die doch auch eine Ursache ist, eine bloße Form der Anschauung zu nennen; denn die Wärme ist dem gemeinen Mann handgreiflich und erschien darum der alten Physik als ein Stoff,als ein Fluidum. Niemand nannte die Elektrizität eine bloße Form der Anschauung. Aber auch Stoffe nennt man Wärme und Elektrizität jetzt nicht mehr. Sollte die Wissenschaft oder die Sprache einmal dahin gelangen, das Fluidum, den Fluxus oder den Strom der Zeit als Ursache zu begreifen, dann wäre die Einreibung der Zeit unter die Kräfte möglich, und recht fein müßte schon der sein, der dann lachend fragen würde,ob denn die Kräfte zu den Ursachen oder zu den Wirkungen, zu den Dingen oder zu den Eigenschaften gehören. Der Raum schließt sich der Zeit gern wie ein unentrinnbarer Schatten an; er würde auch die Verdinglichung der Zeit gern mitmachen. Es wird aber schwer halten, wenn wir uns nicht entschließen, das Verhältnis zwischen Ursache und Bedingung endlich zu verstehen. (Vgl. Art. Ursache.) Der Widerspruch, zu welchem die Vorstellungen des naiven Realismus und die des transzendentalen Idealismus in ihrer Lehre vom Raume sich verwirren, läßt sich kaum stärker formulieren als durch die Gegenüberstellung der beiden Bilder: daß der Raum das Wesentlichste an dem Stoffe sei (die Körper sind Ausdehnung) oder gar der Stoff selbst, und daß der Raum nur eine Form der Anschauung sei. Wir werden noch erfahren und haben es oft genug angenommen, daß der Ursachbegriff der mythologischen Welt angehöre, daß also weder Zeit noch Raum Ursachen einer unserer drei Welten genannt werden können. Wohl aber treten wir der idealistischen Lehre soweit entgegen, als wir in Raum und Zeit die allgegenwärtigen Grundbedingungen der adjektivischen Welt erblicken, der einzig wirklichen Welt des Sensualismus; so wie wir aber von einer dieser beiden eigentlich untrennbaren Bedingungen abstrahieren, wird der Raum zur Bedingung der substantivischen Welt oder der Welt des Seins, wird die Zeit zur Bedingung der verbalen Welt oder der Welt des Werdens. Wir können uns das Sein ohne den Raum nicht vorstellen; aber wir müssen dann die Zeit hinwegdenken. So verwandelt sich uns die alte metaphysische Frage nach der Realität des Raums zu einer erkenntnistheoretischen, ja zu einer sprachkritischen Frage. Wir können mit Anspannung unserer Phantasie in der Durchflechtung von Schuß und Kette, in einem Gewebe also, ein Bild der Verbindung von Raum und Zeit sehen; aber in der Wirklichkeit können wir Schuß und Kette auch getrennt wahrnehmen, Raum und Zeit können wir nicht aus dem Gewebe der Natur bloßlegen; immer können wir nur entweder vom Raume oder von der Zeit gewaltsam abstrahieren und so von der Zeit allein oder vom Raume allein reden. II. Die Frage, ob der Raum, der uns nach unserer Vorstellung als etwas Wohlbekanntes umgibt, wirklich drei Dimensionen habe, läßt sich mit Worten gar nicht beantworten. Denn wirklich heißt hier nur der Gegensatz zu unserem Vorstellen, zum Denken, also zur Sprache. So viel aber ist gewiß, daß die Dreiheit der Dimensionen entsprechend der Dreiheit der Ordinaten nicht der natürlichen Orientierung entspricht. Die fliegende Mücke findet Raum in jeder Dimension, und der zum Kristall zusammenschießende Körper scheint mir je nach seiner Form eine Mehrzahl von Dimensionen zu nutzen. Die drei Dimensionen oder Ordinaten dürften also doch dem Raume selbst nicht zugehören, sondern nur der Sprache, dem Diskurs, dem diskursiven Denken, das gelernt hat, mit diesem Minimum von Richtungen zur Ortsbestimmung im Raume auszukommen. Dieses Ordinatensystem des Raums, das sich für jedermann in seinem eigenen Kopfe kreuzt (und nicht in einem mathematischen Punkt), ist ebenso subjektiv, wie es beweglich ist. Die senkrechte Ordinate tragen wir, wenn wir den Standort wechseln, überall mit uns herum. Die beiden andern Ordinaten drehen sich bis zu ihren unendlich weiten Enden, wenn wir den Kopf wenden oder neigen. So ist jeder menschliche Kopf an das Koordinatenkreuz des Raums geschlagen. Und wie der Schein eines Ichbewußtseins nur erhalten wird durch die Kontinuität des Gedächtnisses, so bleibt dem Menschen eine persönliche Raumvorstellung nur durch die Kontinuität seiner Ortsbewegungen. Also ist das Individuum nicht nur Träger, sondern unaufhörlich auch Neuschöpfer seines Raums. Und dadurch unterscheidet sich vom Raum die vierte Richtung oder Dimension: die Zeit. Der Raum des individuellen Ich hält nur still, wenn der Kopf dieses Individuums still hält und mit ihm die sich kreuzenden Koordinaten. Für die Zeit aber muß das Ich immer still halten. Ewig kommt die Zukunft an das Ich heran (der Moment der Begegnung heißt die Gegenwart), um durch den dunklen Moment hindurchzugehen und sich sofort in Vergangenheit zu verwandeln. Dann kommt eine Zeit, und es gibt kein Ich mehr (unser Ich nicht mehr) und die Zeit stößt sich nicht mehr an das Ich, sie fließt nicht mehr aus der Zukunft in die Vergangenheit, sie steht still oder sie nimmt - wenn sie fließt - die Leiche des Ich in ihrer Strömung mit. Ich will hier endlich die Bemerkung machen, daß auch solche Schriftsteller, welche die logische Ordnung höher schätzen als ich, immer wieder auf die Zeit hinweisen müssen, wenn sie vom Raume allein reden wollten. Die beiden Begriffe oder Wörter lassen sich freilich trennen; als Bedingungen der Erfahrungswelt sind sie aber untrennbar. Es gibt nichts, was nicht zugleich im Raume und in der Zeit zu unserer Kenntnis käme. Wollten wir übrigens diese Partikel in genau analysieren, so würde sich eine neue Hilflosigkeit der Sprache herausstellen, vielleicht gar ein Wink dafür finden, daß das metaphysische Problem des Raums (in unserer Sprache: die sprachkritische Frage nach der Realität des Raums) gar nicht zu lösen sei; denn wenn es auf den ersten scharfen Blick so scheint, als ob im Raume eine sinnliche Vorstellung gebe, in der Zeit aber nur ein kühnes Bild nach dieser Vorstellung, so belehrt uns ein noch schärferes Hinsehen darüber, daß in auch in Beziehung auf den Raum kein sinnliches Bild liefert; man kann den Standpunkt wechseln und ebensogut sagen: ein Körper sei im Raume, wie: der Raum sei im Körper. Da ich so das Recht in Anspruch genommen habe, hier gleich von der Zeit zu reden, will ich jetzt einen Gedanken vorwegnehmen, der erst bei der Analyse des Zeitbegriffs ganz deutlich werden kann. Wir können die Zeit bildlich viel besser eine Kraft nennen als den Raum, weil der Raum niemals verbraucht wird, wohl aber die Zeit. Der Raum, sowohl der unendliche als der endliche Raum, bleibt nach seiner Benützung ganz wie vorher; nur in einem gegebenen Zeitmoment ist ein bestimmter Raum nicht zweimal zu besetzen, was man die Undurchdringlichkeit der Körper nennt; die Zeit aber wird verbraucht. Daß sie auch ohne Benützung vergeht, das hat sie mit manchen Kräften gemein; auch die Wärme zerstreut sich, wenn sie nicht in Arbeit verwandelt wird. Fast wie das Weberschiffchen auf dem Webstuhl hin und her durch die Kette fährt, auch dann, wenn kein Garn mehr in dem Schiffchen ist. III. Raum ist ein Begriff wie ein anderer, und so wird er wohl wie ein anderes Wort auf Nervenangaben zurückzuführen sein. Es wird auch seit längerer Zeit von der Wissenschaft gelehrt, daß unsere Sinneswahrnehmungen wie mit Gefühlszeichen, so auch mit Lokalzeichen versehen sind. Wenn wir irgendwo Kühle empfinden, so haben wir dabei erstens die Nebenempfindung des Angenehmen oder Unangenehmen, zweitens die Nebenempfindung, an welcher Körperstelle es kühl geworden ist. Die Gefühlszeichen gehen den Willen an und verknüpfen sich als Wertgefühle im endlosen Gange der Entwicklung zu den Begriffen von Ethik und Ästhetik. Unsere Sinneswahrnehmungen sind aber auch mit Lokalzeichen verbunden; wir empfinden jedesmal mit größerer oder geringerer Genauigkeit, an welcher Stelle unseres Körpers die Nachricht von der Außenwelt in uns gedrungen ist. Wir empfinden es also als eine Eigenschaft aller unserer Wahrnehmungen, daß wir sie an eine bestimmte Stelle unseres Körpers (mitunter in den ganzen Körper oder auch auf die ganze Oberfläche des Körpers) verlegen und daß wir auch den Erreger der Wahrnehmung in einer bestimmten Richtung der Außenwelt suchen. Auch hier fehlen die so beliebten Krankenbeobachtungen nicht. Der Mensch mit einem Stelzfuß kann bekanntlich einen Schmerz in die Fußspitze seines vor Jahren abgeschnittenen Beines verlegen. Für gewöhnlich aber beschreibt ein Kranker den Ort seines Schmerzes richtig, auch wenn er von der Lage seiner inneren Organe keine Ahnung hat. Der Arzt erfährt auch von ungebildeten Kranken, wo es ihnen wehe tue - und besonders Rückenmarksleidende sollen gewissermaßen a priori anatomische Kenntnisse besitzen. Man hat daraus schließen wollen, daß diese Lokalzeichen nicht durch Übung erworben, daß sie angeboren seien. Dagegen erinnere ich an den Stelzfuß, an die Unsicherheit vieler solcher Schmerzbeschreibungen und nehme an, daß die eingeübte Lokalkenntnis unseres Leibes groß genug sei, um es aus ihr zu erklären, wenn von Kranken bisher unbekannte Nachbarstellen annähernd richtig angedeutet werden. Jedenfalls verlegen wir bewußt unsere Empfindungen an bestimmte Orte und glauben sie von bestimmten Richtungen her zu empfangen. Nehme ich an, ich wisse von jeder Empfindung zugleich ihren Ort, so muß ich auch annehmen, daß der Ort oder Raum ebenso wirklich sei wie die Empfindung. Nebenbei muß ich auch glauben, daß unsere Nerven bei solchem Denken unbewußt mit tätig sind; und da Denken für mich Sprache oder Bewußtsein ist, so gerate ich für einen Augenblick in das sprachliche Unfaßbare. Ich komme gleich darauf zurück. Die Örter unserer Empfindung, der Raum also und zunächst unser eigener Körper im Raum, ist demnach nicht mehr, aber auch nicht weniger wirklich als das übrige Empfinden, der Raum ist nicht weniger wirklich als eine Farbe oder ein Klang. Und ich möchte behaupten, daß wir für die relative Realität des Raumes fast bessere Beweise haben als für die von Farben und Klängen. Über diese stimmen die Menschen nicht nachweisbar überein; falsche Raumvorstellungen aber sind als Sinnestäuschungen mit Sicherheit nachzuweisen; und wenn die Menschen ohne Täuschung etwas sehen, so führen - z.B. beim Anblick eines Punktes - alle ihre Sehrichtungen ganz geometrisch zu ihm hin und kreuzen sich da, so daß dieser Punkt als einziger Erreger der verschiedenen Lokalzeichen gewiß angenommen werden kann. Was ist nun dieser Raum? Ein Zeichen für Empfindungen, für Nebenempfindungen, haben wir gesagt. Was ist die Sprache? Zeichen für Empfindungen. Der Raum ist also Sprache, stumme Sprache, wobei besonders bemerkt werden muß, daß auch das andere Denken oder Sprechen auf Erinnerung von Sprechmuskelbewegungen, also wieder auf Raum, zurückgeht. Diese Raumsprache ist ursprünglich, individuell; jedes Tier hat sie ausreichend; diese Raumsprache ist nicht etwas zwischen den Individuen. Wollen sie sich über den Raum verständigen, müssen sie ihn messen, bezeichnen, Worte für ihn bilden. Die Sprache der Geometrie ist also eine Sprache in zweiter Potenz und darum für viele zu schwer. Und ich möchte fragen, ob ein Unterschied zwischen Tieren und Menschen nicht gerade darin zu suchen sein könnte, daß die Menschen die Wortsprache übermäßig ausgebildet haben, daß die Tiere dafür eine unendlich feinere Raumsprache (erster Potenz, ohne Wort) besitzen, daß aber den Tieren die vierte Dimension, die Zeit, nur dämmernd aufgegangen ist. Mein Hund weiß sicher Vergangenes und Künftiges (Prügel und Fraß), aber er differenziert die Erinnerung nicht frei; man sagt: er habe ein dämmerndes Bewußtsein. Denken oder Sprechen ist Vorstellen ohne Lokalzeichen. Der Traum wieder wird gerade dadurch zur Wirklichkeitstäuschung, weil wir im Traume nicht auf das Vorhandensein von Lokalzeichen achten. Unser Ergebnis ist also: daß Raum ebenso relativ wirklich sei wie Farbe oder Klang, daß er beim Tiere und beim ungeometrischen Menschen eine Sprache für sich besitze, die der Lokalzeichen, daß das Fabeln vom Angeborensein dieser Kategorien endlich aufhören müsse. Cheselden berichtet über einen operierten Blindgeborenen (Helmholtz: Phys. Opt. 587), der urteilte, alles, was er sehe, berühre seine Augen. Er hatte den Raum außerhalb seines Körpers noch nicht gelernt, noch nicht eingeübt. In dieser Darlegung ist natürlich Realität als ein relativer Begriff zu verstehen. Die Menschen allein haben sich für den Raum, in dem sie sich bewegen oder der in ihnen, ruht, eine besondere Sprache der Geometrie erfunden, und diese Sprache scheint ihnen die untrüglichste und die realste unter allen Sprachen zu sein. Aber diese Sprache der Geometrie ist nur untrüglich, solange sie sich auf räumliche Zeichen der Raumverhältnisse beschränkt; will sie etwas über den Raum selbst aussagen, so wird sie zu Gemeinsprache und weiß nicht, was der Raum sei; wir haben eine Psychologie und können die Psyche nicht definieren; wir haben eine Geometrie oder Raumlehre und wissen vom Raume nichts zu sagen, als daß er eine relative Realität sei. Eine Möglichkeit des Nebeneinanderseins hat Lotze (Mikrok. III 494) den Raum genannt, aber sofort die Tautologie erkannt: es ist ja ein Zugleichsein (in der Zeit) mitverstanden und der Raum wird im Nebeneinander vorausgesetzt. Auch die Frage nach der Gültigkeit der Axiome des Raums läßt an der Untrüglichkeit der geometrischen Sprache zweifeln; die nichteuklidische Geometrie lehrt nicht mehr, daß eine Gerade der nächste Weg zwischen zwei Raumpunkten sei. IV. Gibt es einen Raumsinn oder ein Raumorgan, wie es im Auge ein Lichtorgan, im Ohr ein Tonorgan gibt, dann wird die Analogie nicht abzuweisen sein, daß es erstens ein auf Raumerscheinungen besonders eingestelltes oder einstellbares Zentrum gibt, eben das Organ, und daß es zweitens Wirkungen des Raums oder der Raumerscheinungen oder der Raumverhältnisse auf dieses Organ gibt. Einwirkungen können aber von etwas bloß Gedachtem nicht ausgehen, wenigstens nicht unmittelbar. Der Raum müßte also etwas Wirkliches sein, wenn wir ein Raumorgan besäßen, ja damit sich ein Raumorgan bilden konnte. Versteht man unter Sinn nicht ein besonderes Organ, versteht man unter Raumsinn z.B. eine Nebenfunktion es Gesichtssinnes, dann könnte ein Raumsinn recht gut ohne wirklichen Raum angenommen werden. Wie das Sehorgan in einer Nebenfunktion den Farbensinn entwickelt hat. Nur daß freilich auch die Farben, die sekundären Eigenschaften, immer noch einer weit hohem Wirklichkeitsordnung angehören könnten als der Raum. Ähnliches wäre von einem Zeitorgane zu sagen. Ein bloßer Zeitsinn als Nebenfunktion z.B. des Gehörs oder aller Sinnesorgane mag eine wirkliche Zeit nicht zur Voraussetzung haben. Gäbe es aber irgendwo ein Zeitorgan, so wäre die Vorstellung nicht abzuweisen, daß nur eine reale Zeit in diesem Organ Veränderungen weiter geben könnte. Um der Vorstellbarkeit willen denke man nur wieder an die Wärme. Durch Jahrtausende hielt man die Wärme für ein materielles Ding, für ein Fluidum, wunderte sich gar nicht darüber, daß wir Wärme empfinden, und kannte kein besonderes Wärmeorgan. Gegenwärtig hat die Wärme ihre brutale Realität verloren, besitzt nur noch, wie die Farbe, eine relative Realität, Erscheinungsrealität, gegenüber ihrem Ding an sich, das eine Bewegung ist. Aber zugleich wird unablässig nach dem genauem Organ dieser Erscheinung geforscht. Niemand zweifelt daran, daß die Bewegungserscheinung Wärme auf ein für sie besonders eingestelltes Organ müsse wirken können. Für die Frage, ob der Raum der Wirklichkeitswelt angehöre oder nur unserem Denken, wird es vielleicht entscheidend sein, die einfachere Frage zu beantworten, ob wir den Richtungsunterschied von rechts und links erst in die Natur hineintragen oder ob er in ihr vor uns, vor unserem Denken und Sprechen, schon vorhanden ist. Nun ist es ganz selbstverständlich, daß die Worte rechts und links von Menschen herrühren, ja sogar, daß ein gewisser Wertunterschied in diesen Ausdrücken bildlich von der Natur oder der Übung der menschlichen Hände hergenommen ist. Es ist unbedingt menschlich, gedanklich und in diesem Sinne unwirklich, wenn wir an den symmetrisch gebauten Organismen eine rechte und eine linke Seite unterscheiden, wenn wir die Schlingpflanzen in rechtsdrehende und linksdrehende trennen. Was aber denn doch vor unserem Denken und vor unserem Sprechen in der Wirklichkeitswelt vorhanden zu sein scheint und was keine Psychologie ihr nehmen kann, das ist die Polarität selbst der beiden Richtungen. Die plastische Natur weiß nichts von rechts und links, aber sie ordnet die Glieder in zwei wirklichen Richtungen des Raums, wie sie sie in der lebendigen Kristallbildung im Raume (wir sagen: nach drei Dimensionen, also in sechs Richtungen) wirklich gruppiert. Es scheint mir darum, daß die Frage nach der Realität oder Idealität des Raums falsch gestellt worden ist. Auch der Raum wie so vieles andre, ist nur ein mythologischer Begriff, in welchem wir die Erscheinung zusammenfassen, daß wirkliche Bewegungen nach Richtungen erfolgen. Wir sollten fragen, ob es in der Wirklichkeit Richtungen gibt oder nicht. Wenn aber Richtung ein viel schwierigerer Begriff ist, als man bis vor kurzem glaubte, wenn wir mit Goldscheid in der Richtung von Veränderungen einen gemeinsamen Oberbegriff für Kausalität und Zweck erblicken dürfen (vergl. Art. Richtung), dann ist vielleicht der Gedanke nicht abzuweisen: die Richtungen im Raume werden erst von uns Menschen in den Raum hineingetragen und haben mit der relativen Realität des Raums nichts zu schaffen. Hängen aber die Bewegungen im Raume immer mit Richtungen zusammen, so werden mit dem Richtungsbegriff auch der Bewegungsbegriff und der Realitätsbegriff (des Raums) zu psychologischen Problemen, zu viel ernstem psychologischen Problemen als die Frage nach der Entstehung der Raumvorstellung eine war. Mit der Bewegung fällt dann jedes dieser Probleme der verbalen Welt zu, der Welt der Zeit, und für die substantivische Welt, die wir noch besser als bisher in der Welt des Seins oder des Raums wiedererkennen werden, bleibt vom Raume nicht viel mehr übrig als der Raumbegriff selbst, d.h. die Welt, insofern wir von der allgegenwärtigen Zeit abstrahieren. V. Daß unsere Vorstellungen vom Raum (und von der Zeit als seiner vierten Dimension) nur eine besondere Art Sprache seien, wird ganz seltsam beleuchtet durch eine geistreiche Bemerkung Strickers. Dieser ruhige Forscher macht (Stud. üb. d. Bewußtsein S. 49) einen Unterschied zwischen Ort und Raum. Örter sind ihm die ausdehnungslosen Stellen, an die wir den Eintritt der Außenwelt in unser Bewußtsein verlegen. Nun deutet er darauf hin, daß wir uns gerade jene Örter ohne Ausdehnung vorstellen, deren Kenntnis wir durch Organe erlangen, die mit der Umgebung unverschiebbar verbunden sind. Es ist wirklich so, daß wir unsere Seele raumlos vorstellen und zugleich die Hirnrinde (wohin man jetzt den sogenannten Sitz der Seele verlegt) unbeweglich oder wenigstens ohne Muskelbewegung unter der Schädeldecke ruht; und daß wir den Tönen keinen Raum zuschreiben (obwohl eine Richtung), wie denn auch das eigentliche Gehörorgan tief im Felsenbein unbeweglich, d.h. wahrscheinlich ohne eigene Muskelbewegung liegt. Dagegen halte man, daß unsere Vorstellung vom Raum teils auf unserm Tastgefühl, d.h. die Mitteilung unserer vielbeweglichen Finger, zurückgeht, teils auf unsern Gesichtssinn und zwar - wie jetzt wohl alle Fachgelehrten anerkennen - auf die Muskelbewegungen, durch die wir unsere Augen, ja selbst die Linse im Auge je nach den Eigenschaften des Raumes einstellen. Es ist begreiflich, daß wir aus solchen (immer räumlichen) Muskelbewegungen entweder auf den Raum schließen oder nach ihnen einen Raum vorstellen. Und auch die Sprache, als Bewegungserinnerung, ist im Grunde ein Gedächtnis an Vorgänge räumlicher Art. Für die Bestimmung eines Ereignisses im Weltlauf ist Raum und Zeit zu beachten; beide »Formen der Anschauung« sind für die Bestimmung jedes Ereignisses notwendig. Man könnte das analytisch so ausdrücken, daß der Ort durch die drei Koordinaten sich bestimmen lasse, der Zeitpunkt durch eine vierte Koordinate oder auch durch ein zweites Koordinatensystem von einer einzigen Dimension, von einer einzigen Richtung. Wenn ein Ereignis häufig nur durch den Ort oder nur durch die Zeit bestimmt wird, so kommt das daher, daß man in allen solchen Fällen die Zeit, beziehungsweise den Raum, als bekannt voraussetzt oder für gleichgültig hält. Die Verhältnisse von Raum und von Zeit ergänzen einander; und wirklich kann von einem von beiden allein nur schwer gesprohen werden. (Vgl. Art. Zeit.) Um so merkwürdiger ist es, daß in manchen Sprachen (franz. espace, ital. spazio), besonders aber im Deutschen, das Wort Raum geradezu den Begriff der Zeit aussprechen kann, wie wir denn auch die unschöne Koppelung Zeitraum gebildet haben. Diese sprachliche Kühnheit entwickelte sich wahrscheinlich über einen biblischen Sprachgebrauch, der Raum machen, Raum geben, Raum haben, lassen, im Sinne von Statt, Gelegenheit geben usw. zuließ; aber auch über die Bedeutung Zwischenraum, intervallum, hinweg mag die bildliche Anwendung dieses Begriffs auf die Zeit häufig geworden sein. Sehr auffallend ist dieser kecke Sprachgebrauch bei Goethe, der doch die Kantsche Lehre von Raum und Zeit gut genug kannte, um einmal (»Vier Jahreszeiten« Nr. 23) übermütig mit ihr spielen zu können (»Raum und Zeit, ich empfind' es sind bloße Formen des Anschauns; da das Eckchen mit dir, Liebchen, unendlich mir scheint«), und dennoch, von andern Stellen ganz abzusehen, in der wunderbar schönen und fast steif feierlichen Dichtung »Legende« (»Paria« II.; ist schon 1821 gedichtet) den Ausruf »noch ist Raum« ganz und gar im Sinne von »noch ist Zeit« wagte. Die Möglichkeit, das Begriffspaar Raum und Zeit zu dem Worte Zeitraum koppeln, die entgegengesetzten Begriffe Zeit und Raum mit dichterischer Kühnheit sogar vertauschen zu können, erscheint weniger merkwürdig, wenn wir uns darauf besinnen, daß wir nicht wissen, was wir als den Oberbegriff von Raum und Zeit aufstellen sollen. Beide Begriffe gehören offenbar zusammen, sowohl für die Gemeinsprache des naiven Realismus wie für die letzte Verstiegenheit des Idealismus. Aber wir können beide nicht definieren, weil wir den Oberbegriff nicht kennen; es wäre denn, daß wir uns an den Begriff Ordnung halten und sagen wollten: wir ordnen die Welt der Erfahrung zunächst nach Raum und Zeit. Doch auch dann bliebe ein Widerspruch vorhanden, weil wir eben nur sprachlich, menschlich, bald von der einen Ordnung, bald von der andern abstrahieren können, die adjektivische Welt der Erfahrung aber nichts darbietet, was nicht zugleich in der Zeit und im Raume erschiene. Daß wir bei der Lehre, Zeit und Raum seien Formen der Anschauung, nicht stehen bleiben können, das ist schon gesagt worden; der Raum ist so wenig bloße Form, daß er in alter und neuer Zeit oft mit dem Stoffe gleichgesetzt worden ist; und die Zeit kann keine bloße Form sein, weil sie in mancher Beziehung wie eine Kraft verbraucht wird. Ich gelange also nicht über den bescheidenen Versuch einer Definition hinaus, über den vorsichtigen Gedanken: wie die Zeit eine Bedingung der verbalen Welt ist, der Welt des Werdens und des Wirkens, so ist der Raum die Bedingung der substantivischen Welt, der Welt des Seins. Und die Schwierigkeit, über diese Begriffe in der immer materialistischen Sprache zu reden, kommt daher, daß wir von der Raumbedingung vollständig absehen müssen (und es nicht können), wenn wir von der Zeit reden wollen, daß wir von der Zeitbedingung absehen müssen (und es nicht können), wenn wir vom Raume reden wollen. Wir haben aus der Erfahrungswelt den Raumbegriff und den Zeitbegriff sprachlich erschlossen; aber es ist uns nicht gelungen, die Realitäten Raum und Zeit getrennt zu verstehen. Für den naiven Sensualismus ist nur eine adjektivische Welt da; die Welt des Raums und die Welt der Zeit können wir nur ahnen. Sobald wir aber erfahren werden, daß die substantivische Welt oder die Welt des Seins auch die der Mystik ist, werden wir uns der Schwierigkeiten des Raumbegriffs wieder erinnern dürfen. Wir können von einer Welt des Seins oder des Raums nur solange reden, auch bildlich nur so lange, als wir die Zeit hinwegdenken; und auch die Welt der Mystik, die der substantivischen Welt angehört, versucht es immer, die Zeit hinwegzudenken, zeitlos zu sein. Realismus - Die Alten und die Scholastiker, wenn man von den griechischen Skeptikern und von den mittelalterlichen Nominalisten absieht, behandelten die Frage nach der Realität der Dinge - man achte auf die Tautologie - in einer Disziplin, welche nacheinander die Namen: erste Philosophie, Metaphysik, Ontologie bekam. Man flüchtete vor dem sich unmittelbar aufdrängenden naiven Realismus in die ideale Welt, in einen Ideal-Realismus hinein und war noch nicht imstande, zwischen Objektivität und Subjektivität, zwischen Wirklichkeit und Scheinbarkeit der Gedankendinge zu unterscheiden. Die Bezeichnung Ontologie für diese ganze Disziplin hat aber erst, wie schon einmal erwähnt, Clauberg erfunden, der nach Klarheit ringende Cartesianer, welcher endlich einmal deutlich Theologie und Welterkenntnis auseinander halten wollte und darum eine Wissenschaft vom Wesen, von der Dingheit, von der Wirklichkeit also, forderte. Wie es eine Wissenschaft der Theosophie oder Theologie gebe, so könne man die Wissenschaft vom Wesen im allgemeinen (circa ens in genere) nicht unpassend (non incommode) ontosophia oder ontologia nennen. Das Wort steht durch Platons Ideenlehre (es geht ja uf den Terminus ontôs onta zurück) mit dem scholastischen Realismus, den ich zur Warnung immer Wortrealismus nenne, in Zusammenhang. Wolf hat dann diese Ontologie in ein sauberes System gebracht; Zeller hat (»Geschichte der deutschen Philosophie« S. 183 f.) dieses System kurz und gut dargestellt und auch auf den Grundfehler dieses Dogmatismus, den Ursprung der Vorstellungen nicht näher zu untersuchen, scharf hingewiesen. Für Freunde sauberer Terminologie ist es auch richtig, wenn Zeller diese Arbeit Wolfs »keine unfruchtbare Leistung« nennt. Erst Kant, der ebenso systematisch, aber denn doch soviel tiefsinniger war als Wolf, hat einen festen Strich zwischen Ontologie und Metaphysik gezogen, die Ontologie zum Vorhofe einer (künftigen) Metaphysik gemacht, die Ontologie in Transzendentalphilosophie, d.h. in Erkenntnistheorie, umzuwandeln gesucht. Schopenhauer (»Parerga« I. S. 88) hat das so ausgedrückt: »Die Kritik der reinen Vernunft hat die Ontologie in Dianoiologie verwandelt.« An einer andern Stelle (»Parerga« II. S. 19) spricht Schopenhauer von dieser Wissenschaft als von dem, »was man früher Ontologie nannte«. In Wahrheit ist die Ontologie ein veralteter Begriff, der alle sterilen Streitigkeiten um die Wirklichkeit der Ideen, um das Wesen oder die ousia um das Sein, kurz um das Unsagbare umfaßt. Nur daß die Ontologie niemals Mystik ist, immer Logik sein will. Höchstens Hegel brachte wie von ferne einen mystischen Zug in seine Ontologie hinein, trotzdem sie bei ihm (Encyklopaedie2 § 33) wieder ganz wortrealistisch ist. Man täuscht sich aber, wenn man glaubt, diese Sterilität des Kampfes habe aufgehört. Ja, wir brauchen das Wort Ontologie beinahe wieder, wenn wir für den Realismus und für einen seiner vielen Gegensätze irgend einen Oberbegriff suchen. Was ist das, was ist? Was ist das Sein? So fragen wir immer noch wie vor dritthalb Jahrtausenden. Auch Kant hätte noch eine Ontologie im scholastischen Sinne nötig gehabt, da er zugleich das Sein und die Unerkennbarkeit der Dinge-an-sich behauptete; gerade vom Standpunkte der Phänomenalität aus müßte doch gefragt werden: dürfen wir noch ein Sein nennen, was für den Menschen in keiner Weise erkennbar ist? Die neueste Fragestellung der Philosophie scheint zu dem Standpunkte des naiven Realismus zurückkehren zu wollen; aber es scheint nur so. Es ist ein bedeutender Unterschied zwischen diesem, welchem die Realität der Außenwelt ein Dogma ist, und den Lehren der philosophischen Physiker (Mach und Helmholtz, auf welche sich die Pragmatisten etwas kühn berufen), denen diese Realität nur eine Hypothese ist, eine brauchbare;, fruchtbare, präzise, die einfachste Hypothese. »Die mit dem Charakter der Wahrnehmung auftretenden Bewußtseinsakte verlaufen so, als ob die von der realistischen Hypothese angenommene Welt der stofflichen Dinge wirklich bestände« (Helmholtz: »Vorträge und Reden« II. S. 243). Das bescheidene und sich bescheidende als ob hat Helmholtz wieder von Kant entlehnt. Auch der Streit um den Realismus endet also mit einem Gleichnis; und würde noch besser mit der ersten und letzten Frage endigen: was ist das? Mauthner: Wörterbuch der Philosophie
Raum und Zeit
Raum und Zeit. Alles, was wir wahrnehmen und uns vorstellen, versetzen wir in Raum und Zeit. Bei jedem Ereignisse fragen wir, wo und wann es geschehen ist. Der naive Mensch findet dabei nichts Auffallendes, während der Philosoph damit auf eines der schwierigsten erkenntnistheoretischen und psychologischen Probleme stößt. - Zunächst ist klar, daß wir uns die Dinge, wenn wir sie in Raum oder Zeit versetzen, als Glieder einer Mannigfaltigkeit nebeneinander oder nacheinander vorstellen. Jenes geschieht bei den sogenannten Außendingen, dieses bei allen Veränderungen der Außen - und Innenwelt. Überlegen wir nun, was wir uns eigentlich unter Raum und Zeit vorstellen, so ergibt sich, wenn wir von allem abstrahieren, was in Raum und Zeit gedacht wird, daß wir uns den Raum als eine Form der Gegenstände und die Zeit als eine Form des Geschehens vorstellen. Für das naive Denken existieren diese Formen als etwas
Selbständiges, vor dem Inhalte Fertiges und auf diesen Wartendes, der Raum als
ein ungeheures Gefäß, welches alles umschließt (etwa eine Kugel), (vgl. Aristot.
Phys. IV, 4 p. 212 A 15 ho topos angeion ametakinêton), die Zeit als der
stetige Übergang von dem, was war, zu dem, was sein wird, als ein sich selbst
bewegender Fluß. Jenen denkt man sich durch drei rechtwinklige Abmessungen von
einem Punkte aus bestimmt, diese als eine immer entstehende, aber nie daseiende
Linie von einer Dimension.
Nun lehrt aber die Erkenntnistheorie, daß die ganze Außen - und Innenwelt uns zunächst in unserem Bewußtsein gegeben ist; Raum und Zeit sind trotz aller Beziehung zum Wirklichen also nicht etwas, was den Dingen unabhängig von nserem Bewußtsein angehört, sondern wie jede Verbindungsform der Vorstellungen aus der Tätigkeit des Subjekts entspringt, so sind auch sie nur unter Voraussetzung eines Subjekts, das zur Wirklichkeit in Beziehung tritt, vorhanden. Diese Lehre von der transscendentalen Idealität von Raum und Zeit, die Kant (1724-1804) in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) und schon vorher (1770) aufgestellt hat, muß jetzt zu den gesicherten Resultaten der Erkenntnistheorie gerechnet werden. - Raum und Zeit scheiden sich nun bestimmt und klar von den Qualitäten der Empfindung; sie sind die extensiven Formen, in denen sich die Elemente der Empfindungen unmittelbar und in fester Ordnung zueinander, sowie auch in Beziehung zum Subjekte verbinden. Solche Formen sind aber nicht selbst Empfindungen. Und weil sie nur Verbindungsformen von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen sind, können sie auch nicht unmittelbar als Wahrnehmungen oder Vorstellungen gegeben sein. Man kann sich den Raum zwar von allem Inhalt getrennt als absoluten oder reinen unendlichen Raum und die Zeit als leere unendliche Zeit denken, und die Mathematik stellt die ideale Forderung, sie sich so zu denken; aber jede wirkliche räumliche und zeitliche Vorstellung und Anschauung eines einzelnen Subjekts schließt trotzdem einen, wenn auch noch so verblaßten Empfindungsinhalt in sich ein. Der reine Raum und die reine Zeit wird niemals wahrgenommen oder vorgestellt, sondern nur gedacht. Andrerseits besteht gerade das Wesen der Verbindungsformen, die uns in Raum und Zeit vorliegen, auch darin, daß die Empfindungen sich unmittelbar und assoziativ ohne unseren Willen und unsere Aktivität mit einem gewissen Zwang, den wir erleiden, in sie hineinfügen, und daß diese Formen dann von den Wahrnehmungen aus durch Reproduktion in die Vorstellungen übergehen. Raum und Zeit haben darum empirische Realität und sind als sinnliche Formen der Anschauungen zu bezeichnen. Sie sind keine begrifflichen Formen und sind etwas stets Einzelnes, nie schlechthin Allgemeines. Sie wollen also wahrgenommen und vorgestellt, aber nicht nur gedacht sein. Nur gedachte Räume oder Zeiten sind keine Räume und Zeiten mehr. Absolute unendliche Räume und Zeiten sind also nichts weiter als Abstraktionen, die in Wahrheit nie vom Subjekte erreicht werden und nur als letzte ideale Forderungen der Philosophie und der Mathematik vorhanden sind. Mit Recht hat also Kant Raum und Zeit von den Kategorien (allgemeinen Begriffsformen) geschieden und als sinnliche Formen der Anschauung bezeichnet und ihnen empirische Realität zugeschrieben. - Die Frage ist nun weiter, ob sie als fertige Formen in der Seele liegen oder sich von Fall zu Fall aus den Empfindungen und Vorstellungen des Subjektes entwickeln. Jene Ansicht, die nativistische, wird Kant oft fälschlich zugeschrieben. Das beruht aber nur auf einem hartnäckigen Mißverständnis der Lehre Kants. Kant bezeichnet 1770 Raum und Zeit ausdrücklich als »ursprünglich erworben«, nicht als angeboren, und in der Kritik der reinen Vernunft (1781) findet sich nichts, was dieser Annahme widerspricht oder eine Änderung der Ansicht Kants andeutet. Das Apriori hat bei Kant nicht die Bedeutung: »angeboren«,
oder »fertig im Bewußtsein gegeben«, oder »vor aller Erfahrung gegeben«,
sondern es hat nur die Bedeutung: »aus der Quelle der Vernunft, nicht von außen
her entstehend«. Das Apriori kann sich somit in der Erfahrung und durch die Tätigkeit
des Bewußtseins selbst erst entwickeln und bilden. Kant ist also bezüglich der
Lehre von Raum und Zeit kein Nativist, wofür er häufig gehaltenwird. Er hat
zwar keine genetische Raumtheorie aufgestellt, aber sie läßt sich der
Kantschen Lehre ohne Widerspruch hinzufügen. -
Es kann nun mit Raum und Zeit nicht anders stehn als mit unserem gesamten Bewußtseinsinhalt. Er entwickelt sich erst im Leben innerhalb der Erfahrung und wird schrittweise erworben ; und nur die Anlage zur räumlichen und zeitlichen Einordnung der Empfindung ist ein Besitz, den wir durch Vererbung auf der Stufe des höheren tierischen und des menschlichen Lebens bereits überliefert erhalten. - Wenn nun aber alle räumlichen und zeitlichen Vorstellungen sich erst innerhalb unserer sinnlichen Tätigkeit auf Grund der vorhandenen Anlagen entwickeln, so kann allerdings die Erkenntnistheorie die Idee einer strengen Allgemeinheit und Notwendigkeit der uns bekannten Zeitund Raumgesetze, wie sie Kant aufgestellt hat, nicht aufrechterhalten. Raum und Zeit entstehen mit unseren Vorstellungen von in der Wirklichkeit gegebenen Objekten und haben nur den Wert und die Bedeutung des Tatsächlichen. Die Mathematik, soweit sie aus diesen Vorstellungen hervorgeht, insbesondere die Geometrie, beruht auf Tatsachen und ist in ihren Fundamenten ebenso empirisch wie jede Wissenschaft. Aus dem Begriffe der Sinnlichkeit, Empfänglichkeit, Rezeptivität oder Verbindung läßt sich nie Raum und Zeit in der uns gegebenen Form ableiten, nie zeigen, daß Raum und Zeit so beschaffen sein müssen, wie sie sind; und der Gedanke der Möglichkeit anderer Räume und Zeiten wie die unsrigen läßt sich sehr wohl fassen, und wenn auch nie in Anschauung übersetzen, so doch mathematisch bestimmen und durchführen (s. Metamathematik). Alle geometrischen Lehrsätze haben also nur eine beschränkte Apodiktizität. Die spiritistische Phantasterei, einen mehr als dreidimensionalen Raum als wirklich gegeben anzunehmen, ist natürlich andrerseits durch nichts gerechtfertigt, und alle experimentellen Versuche ihn nachzuweisen sind Gaukelspiel und Betrug. Es gilt aber noch heute der Satz, den Gauß am 9. April 1830 an Bessel schrieb: »Nach meiner innigsten Überzeugung hat die Raumlehre zu unserem Wissen der selbstverständlichen Wahrheiten eine ganz andere Stellung als die reine Größenlehre; es geht unserer Kenntnis von jener durchaus diejenige vollständige Überzeugung von ihrer Notwendigkeit (also auch von ihrer absoluten Wahrheit) ab, welche der letzteren eigen ist, wir müssen in Demut zugeben, daß, wenn die Zahl bloß unseres Geistes Produkt ist, der Raum auch außer unserem Geiste eine Realität hat, der wir a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können.« Die Lehre von der transscendentalen Idealität des Raumes findet also erst ihre Ergänzung in der recht verstandenen und richtig gewendeten Lehre von dem empirischen Ursprunge von Zeit und Raum, mit der allerdings das Apriori im Sinne Kants als das Notwendige, Allgemeine, aus reiner Vernunft Stammende fällt und nur im Sinne der Entwicklungslehre bleiben kann. Aus den Bedingungen unserer geistigen und physischen Organisation hervorgehend, entstehen Zeit und Raum mit der Entwicklung des Empfindungslebens. Als Bewußtseinsformen sind sie nicht unmittelbar etwas Wirkliches, aber sie gehören zu dem Objektiven in unseren Vorstellungen, eben weil sie unmittelbar mit den Empfindungen verknüpft sind und die Einordnung in sie ohne Willkür und unter einem gewissen Zwange erfolgt. Im besonderen vollzieht sich die Entstehung der Raum- und Zeitvorstellung im Subjekte nach Wundts genetischer Verschmelzungstheorie, die an Lotze und v. Helmholtz anknüpft und der nativistischen Herings (geb. 1834) entgegengesetzt ist, in folgender Weise: Die Raumvorstellung ist nicht eine ursprüngliche Eigenschaft der einzelnen Empfindungselemente, wie es die Intensität und Qualität der Empfindungen sind, sondern sie setzt ein Zusammensein der Empfindungen als Bedingung voraus und ist die Form fester Ordnung der Sinnesqualitäten. Sie entsteht aus den Funktionen zweier Sinne, des Tastsinns und des Gesichtssinns, ist also die Form der Ordnung der Tastempfindungen und Lichtempfindungen. Der Blindgeborene erwirbt sie nur durch den Tastsinn, der normalsehende Mensch in ihrer feineren Ausbildung mehr durch den Gesichtssinn als durch den Tastsinn. Die Vorgänge, die beim Zustandekommen der Raumvorstellung durch den Tastsinn stattfinden, sind folgende: Ein Gegenstand kommt in Berührung mit dem Tastorgan und ruft eine Tastempfindung hervor. Hierbei bildet sich eine bestimmte Vorstellung von dem Orte der Berührung, die darauf beruht, daß jedem Punkte des Tastorgans eine eigentümliche qualitative Färbung der Tastempfindung zukommt, die von der Qualität des äußeren Eindrucks unabhängig ist. Die lokale Färbung der Empfindung wird das Lokalzeichen der Empfindung genannt. Diese Lokalzeichen oder Ortsempfindungen schließen, jedes für sich, noch keine Raumvorstellung in sich ein. Mit diesen Ortsempfindungen verbinden sich nun aber die Bewegungen des Tastorgans, die von inneren Tastempfindungen begleitet sind. Die einzelne dieser inneren Tastempfindung schließt ebensowenig wie das Lokalzeichen die Raumvorstellung in sich ein. Aber durch die empirisch gegebenen Verbindungen der Empfindungen entsteht die räumliche Vorstellung. Mit je zwei Empfindungen a und b von bestimmter Lokalzeichendifferenz ist stets eine bestimmte, die Bewegung begleitende innere Tastempfindung mit einer größeren Lokalzeichendifferenz a und c eine intensivere Bewegungsempfindung g assoziiert. So ist die aus der Funktion des Tastsinns hervorgehende Raumvorstellung das Produkt einer Verschmelzung äußerer Tastempfindungen und ihrer qualitativ abgestuften Lokalzeichen mit inneren intensiv abgestuften Tastempfindungen, und zwar bilden bei dieser Verschmelzung die äußeren Tastempfindungen die herrschenden Elemente, während die inneren Tastempfindungen hinter ihnen zurücktreten, wie etwa die Obertöne eines Klanges. Die Verschmelzung selbst ist eine doppelte, wenn auch gleichzeitige. Durch eine erste Verschmelzung ordnen sich die Qualitätsstufen des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems in ihrem Verhältnis zueinander nach den Intensitätsstufen der inneren Tastempfindung ; durch eine zweite verbinden sich die durch die Reize bestimmten äußeren Tastempfindungen mit jenen ersten Verschmelzungsprodukten. Die äußere Tastempfindung wechselt mit der
Beschaffenheit des objektiven Reizes; aber die Lokalzeichen bilden zusammen mit
den inneren Tastempfindungen subjektive Elemente, deren wechselseitige Zuordnung
bei den verschiedenen äußeren Eindrücken immer dieselbe bleibt, so daß die
psychologische Bedingung für die dem Räume zugeschriebene Konstanz der
Eigenschaften gegeben ist, die sich in der Lehre von der Verschiebbarkeit und
Drehbarkeit der räumlichen Gebilde ausspricht. Die so erworbene Raumvorstellung
ist natürlich reproduzierbar und kehrt in Erinnerungsbilern wieder.
Die Eigenschaften des Tastsinns wiederholen sich beim Gesichtssinn, freilich in viel feinerer Ausbildung. Die Netzhautfläche verhält sich analog einem Tastgebiet, übertrifft es aber an Stärke. Auch bei dem Eintritt einer Gesichtsempfindung durch Einwirkung eines Lichtreizes auf die Netzhaut entsteht die Vorstellung eines ihm zukommenden Ortes, mit der aber die räumliche Vorstellung noch nicht verbunden ist; doch erfolgt hierbei die Lokalisation nicht wie beim Tastsinn durch die unmittelbare Beziehung auf den entsprechenden Punkt des Sinnesorganes selbst, sondern wir verlegen, ohne daß wir erklären können, warum dies geschieht, den Eindruck an das außerhalb des vorstellenden Subjektes und in irgend einer Entfernung von ihm gelegene Sehfeld. Mit diesen qualitativen Lokalzeichen des Gesichtssinnes,
die mit den einzelnen Zuständen der Netzhaut zusammenhängen, verbin den sich
die die Bewegungen des Auges begleitenden, ein intensiv abgestuftes System
bildenden Empfindungen. Die Bewegungen des Auges spielen bei der Ausmessung von
Strecken des Sehfelds eine ähnliche Rolle wie die Tastbewegungen bei Ausmessung
der Tasteindrücke, jedoch so, daß die Bewegungen des einen Auges noch durch
die des andern unterstützt werden. Mit der einzelnen Empfindung ist auch hier
die räumliche Vorstellung nicht verbunden.
Sie entsteht auf Grund der Verbindung der Empfindungen.
Die räumliche Ordnung der Lichteindrücke ist also eine Einordnung des nach
zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems der Netzhaut in ein intensiv
abgestuftes System der die Bewegungen des Auges begleitenden inneren
Tastempfindung. Für je zwei Lokalzeichen, a und b, ist die bei der Durchmessung
der Strecke a b entstehende Spannungsempfindung a ein Maß der linearen Raumgröße,
während einer großem Strecke a c eine intensivere Spannungsempfindung je
entspricht. So vollzieht sich also auch bei der Entstehung der Raumvorstellung
durch die Vorgänge im Gesichtssinne eine Verschmelzung. Verschmolzen werden die
in der Beschaffenheit der äußeren Reize begründeten Empfindungsqualitäten,
die von den Arten der Reizeinwirkung abhängigen qualitativen Lokalzeichen und
die durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautzentrum bestimmten
intensiv abgestuften Spannungsempfindungen. Auch hier ist die Entstehung der Raumvorstellung an die Vorgänge selbst gebunden, aber die Raumvorstellung ist ebenso reproduzierbar wie beim Tastsinn. Während aber beim Tastsinn sich die qualitativen Lokalzeichen mit den inneren, durch die Bewegung des Tastorgans verbundenen Bewegungen verschmelzen, verbinden sich beim Sehen die qualitativen Lichteindrücke mit den die Bewegungen der Augen begleitenden inneren Tastempfindungen, so daß hier von einem System komplexer Lokalzeiehen geredet werden kann. Die räumliche Lokalisation irgend eines Lichteindrucks
erscheint demnach als das Produkt einer vollständigen Verschmelzung der durch
den äußeren Reiz bestimmten Lichtempfindung mit je zwei zusammengehörigen
Elementen jenes komplexen Lokalzeichensystems, und die räumliche Ordnung
einer Mehrheit einfacher Eindrücke besteht in der Verbindung einer großen
Anzahl solcher Verschmelzungen, die qualitativ und intensiv nach Maßgabe der
Elemente des Lokalzeichensystems gegeneinander abgestuft sind. Hierbei sind die
von den äußeren Reizwirkungen bestimmten Empfindungen die herrschenden
Elemente, gegenüber denen die Elemente des Lokalzeichensystems selbst zurücktreten.
Die
durch den Tastsinn und die durch den Gesichtssinn erworbenen Raumvorstellungen
und ihre Erinnerungsbilder ordnen sich ineinander ein und ergänzen sich, und
zwar so, daß beim Sehenden die letzteren vorherrschen und uns das Bild der Außenwelt
liefern. Sie werden schließlich auf alle anderen Sinnesempfindungen übertragen.
( Wundt, Grundriß der Psychologie § 10.)
Die Bildung der Zeitvorstellungen erfolgt vornehmlich auf Grund von Tast - und Gehörsempfindungen ; doch sind die Bedingungen zu ihrer Entstehung auch bei anderen Empfindungen gegeben. Bei der Bildung der Zeitvorstellung durch den Tastsinn sind es nicht die äußeren, sondern nur die inneren Tastempfindungen, welche die Tastbewegungen begleiten, aus denen die Zeitvorstellung hervorgeht. Bei den Bewegungen, besonders bei den rhythmischen Bewegungen, z.B. der Beine und Arme beim Gehen findet ein regelmäßiges Wechseln qualitativ entgegengesetzter, spannender und lösender Gefühle statt, von denen das lösende sehr rasch verläuft, das spannende langsam zum Maximum aufsteigt, um dann plötzlich zu sinken, und bei deren Wechsel die intensivsten Gefühlsvorgänge sich auf die Grenzpunkte der Perioden zusammendrängen. Die einfachsten zeitlichen Tastvorstellungen, die so
entstehen, bestehen demnach in rhythmisch geordneten Empfindungen, die sich
gleichförmig wiederholen. Für die Entstehung der Zeitvorstellung durch den Gehörssinn
liegen die Bedingungen besonders günstig, wenn es sich um diskontinuierliche
Tastfolgen handelt, bei denen den Zeitstrecken selbst jeder objektive
Empfindungsinhalt fehlt, und die Gehörseindrücke selbst nur die Begrenzung der
Zeitstrecken gegeneinander vermitteln. Auch hier füllen sich die objektiv
leeren Zeitstrecken mit einem subjektiven Gefühls - und Empfindungsinhalt, der
dem bei rhythmisch verlaufenden Tastbewegungen vollständig entspricht, und es
wechseln steigende und erfüllte Erwartung, die auf Spannungsempfindungen
des Trommelfells oder auf den inneren Tastempfindungen beruht, die sich
mit einem unwillkürlichen Taktieren verbinden.
Verbindet man die Resultate dieser Beobachtung, die sich nur auf die günstigen Fälle der Entstehung der Zeitvorstellung bezieht, so ergibt sich, daß auch die Zeitvorstellung nicht an einer einzelnen isoliert gedachten Empfindung haftet, sondern aus der Verbindung psychischer Elemente hervorgeht. Auch hier ist der Vorgang der Entstehung eine Verschmelzung. Bei dieser ist der momentan gegenwärtige Eindruck, der am schärfsten und klarsten wahrgenommen wird und durch Gefühlselemente charakterisiert ist, immer derjenige, nach dem alle andern orientiert werden, wodurch die Vorstellung vom Fließen der Zeit entsteht. Die zeitliche Ordnung nach diesem Orientierungspunkte geschieht durch Hilfsmittel, die analog den Lokalzeichen Zeitzeichen genannt werden können und die im wesentlichen Gefühlselemente sind. Die Erwartungsgefühle sind die qualitativen, die
inneren Tastempfindungen die intensiven Zeitzeichen. Die Zeitvorstellung ist
daher ihrer Entstehung nach ein Verschmelzungsprodukt beider Arten der
Zeitzeichen miteinander und mit den in die zeitliche Form geordneten objektiven
Empfindungen. ( Wundt, Grundriß der Psychol. § 11.)
Aus der psychologischen Darlegung der Entstehung unserer Zeit- und Raumvorstellung ergibt sich, daß Zeit und Raum, soviel Analoges sie enthalten, weder gleichgesetzt, noch vollständig parallellisiert werden können. Die psychologischen Grundlagen der Zeitvorstellung sind viel allgemeiner als die der Raumvorstellung. Die Zeit wird zur Ordnung aller unserer psychischen Elemente, zur Grundform der inneren Wahrnehmung und ist somit allgemeiner als die Raumform. Die Ordnung, die im Räume den psychischen Elementen gegeben wird, ist nur fest in bezug auf die Elemente selbst, aber veränderlich bezüglich des Subjekts, so daß wir die Möglichkeit einer Drehung und Verschiebung der räumlichen Gebilde ohne Änderung derselben zugeben. Die Ordnung, die dagegen in der Zeit den psychischen
Elementen gegeben wird, ist fest auch bezüglich des Subjekts, so daß jede Veränderung
in dieser Beziehung auch eine Veränderung der Zeitelemente zueinander herbeiführt.
Der Raum hat drei Dimensionen, die Zeit nur eine; aber die Punkte in dieser
Dimension sind nie zugleich gegeben. Auch völlige Parallelisierung von Raum und
Zeit ist unmöglich.
Die Ansichten der Philosophen über das Wesen von Raum und Zeit haben sehr geschwankt. Die reale Existenz des leeren Raumes nahmen im Altertum die Pythagoreer, die Atomisten und Epikureer an, während die Eleaten sie leugneten. Platon (427-347) setzte Materie und Raum einander gleich. Beide sind ihm ein Nichtreales. Aristoteles (384-322) erklärte den Raum für die erste unbewegte Grenze des umschließenden Körpers gegen den umschlossenen und leugnete den leeren Raum (to tou periechontos peras akinêton prôton tout estin ho topos. Phys. IV, 4, p. 212 A 20). Die Stoiker lehrten die Existenz eines außerhalb der stofflichen Welt befindlichen unendlichenleeren Raumes. - Von den Neueren nahm Descartes (1596-1650) Raum und Materie für identisch, indem er als das Wesen des Körperlichen die Ausdehnung ansah. Für Leibniz (1646-1716) dagegen ist der Raum nur eine verworrene Vorstellung. In der sinnlichen Auffassung erscheint uns die Ordnung der Monaden als Ordnung koexistierender Phänomene. Kant (1724-1804) erfaßte den Raum richtig als sinnliche Form und lehrte seine transscendentale Idealität und empirische Realität. Seine Lehre von der Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Raumanschauung und Apodiktizität der Mathematik entspricht zwar dem rationalistischen Gesichtspunkte seiner Philosophie, ist aber nicht haltbar. Gegen sie sind von mathematischer Seite triftige
Einwendungen namentlich von Lobatschewsky, Gauß, Riemann, v. Helmholtz u. a.
gemacht worden; die Raumtheorie Kants lebt also nur modifiziert in der Gegenwart
fort. Den physiologisch-psychischen Prozeß, durch den die Raum- und
Zeitvorstellung erworben wird, hat in neuerer Zeit im Anschluß an Lotze und v.
Helmholtz vor allem Wundt (geb. 1832) festgestellt, der die Theorie des
komplexen Lokalzeichens geschaffen hat. An Wundt sich anlehnend, gibt Hellpach
(Die Grenzwissenschaften der Psychologie S. 142 ff.) eine ausführliche Theorie
der Raumauschauung, die aber Mißverständnisse der Kantischen Lehren in sich
einschließt.
Die Zeit ist nach Platon mit dem Himmel entstanden. Nach Aristoteles ist sie das Maß der Bewegung in bezug auf das Früher und Später (hoti men toinyn ho chronos arithmos kinêseôs kata to proteron kai hysteron - phaneron Arist. Phys. IV, 11 p. 220 A 24). Für den Stoiker war die Zeit ein unkörperliches Gedankenhaftes. Auch Cartesius (1596-1650) sah in ihr nur einen Modus des Denkens (modus cogitandi) und definierte sie nach Aristoteles als ›numerus motus‹. Ihm folgte Spinoza. Für Leibniz (1646-1716) war die Zeit ›l'ordre des possibilités inconsistentes‹. Kant (1724-1804) verbindet die Raum- und Zeittheorie miteinander. Ebenso wie der Raum, ist ihm die Zeit sinnliche Form, und zwar Form des inneren Sinnes und von transscendentaler Idealität. Ebenso wie vom Räume, lehrt er die Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Zeitvorstellung, ebenso wie in der Raumtheorie, will er die Apodiktizität der Mathematik mit auf die Apriorität der Zeitvorstellung aufbauen. Aber von dem Erscheinen der Prolegomena ab begeht er in seiner Zeittheorie den Irrtum, daß er den Zeitbegriff als Grundlage des Zahlbegriffs ansieht und nun die Arithmetik ebenso in Verbindung mit seiner Lehre von. der Zeit setzt, wie die Geometrie mit seier Raumlehre. Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist von diesem Irrtum noch frei. Daß der Begriff der Zeit seine mathematische Verwendung erst in der Kombinations- und Reihenlehre findet, die Grundbegriffe der Arithmetik aber nichts damit zu tun haben, muß Kant gegenüber betont werden (s. Zahl); aber ebensowenig ist seine Parallelisierung von Zeit und Raum als richtig anzuerkennen. Nach Kant ist die erkenntnistheoretische Frage bezüglich
der Zeit wenig behandelt und nur die psychologische Theorie von der Zeit gefördert
worden. Eine Theorie andersartiger Zeiten, als unsere Erfahrungszeit ist, ist
bisher nicht aufgestellt worden und dürfte ihre besondere Schwierigkeit haben,
da mit Dimensionen bei der Zeit nichts auszurichten ist. Neuerdings hat M. Palágyi
(Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Leipzig 1901) die Zweiheit der Raum- und
Zeitanschauung geleugnet und beide durch den Begriff des » fließenden Raumes
« ersetzen wollen. Aber seine Grunddefinition: »Der Zeitpunkt ist der Weltraum«
und »Der Raumpunkt ist der Zeitstrom« begründen nicht die Idee der
untrennbaren Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit; denn der Zeitpunkt ist
keine Zeit, und der Raumpunkt kein Raum. - Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft,
S. 191 ff. Th. Isenkrahe, Idealismus oder Realismus. 1883. C. Stumpf, Psychol.
Urspr. der Raumvorstell. 1873. Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik.
1869. B. Erdmann, die Axiome der Geometrie. 1877. Schlesinger, Substantielle
Wesenheit des Raumes und der Kraft. Wien 1885. Wundt, Grundzüge der phys. Psychologie
II. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechen-, Mathematik- und
Physik-Unterrichts. München 1895.
Kirchner/Michaelis: Wörterbuch der Philosophischen
Grundbegriffe
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canandanann 22-02-2003
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